Mit ‘Gemeindekultur’ getaggte Beiträge

(Jamie Reed ist  Labour Abgeordneter im englischen Parlament.)

Ich habe es ja ehrlich versucht… Ich wollte, dass es ganz anders kommt, wollte einen Unterschied machen… Vorsätze, Ansätze und Wollen war da- und nun bin ich doch ganz genau so einer geworden. Aber der Reihe nach:
Vor 2,5 Jahren zog ich in die Millionenstadt Köln. Nach einem Jahr im Dienste der evangelischen Kirche sah ich mich in einer Übergangszeit zwischen zwei Jobs nach Gemeinden um, die man besuchen könnte. Ich wusste bereits vom mysteriösen Verschwinden der Twenty-Somethings aus Gemeinden; kannte die Statistiken, die von der statistischen Verweiblichung der Gemeinden Zeugnis ablegten. Aber in einer mondänen, lebendigen Stadt wie Köln, voller junger Menschen, musste es doch auch andere Beispiele geben.

Die gibt es eigentlich auch. Es gibt Gemeinden, in denen sich eine beachtliche Anzahl Twenty-Somethings tummelten. Auch männliche… Aber wäre es so einfach gewesen, wäre dieser Artikel hier zu Ende. Ist er aber nicht, weil einfach manchmal auch einfach einfach ist. Ich lege gar nicht sooo viel Wert auf die Predigt und bin es auch gewohnt, progressiver zu denken als die „übliche“ Freikirche von nebenan. Das sind eigentlich keine Gründe an denen es bei mir scheitert. Inspirierende, tiefgründige und vielschichtige Predigten wären toll- jedoch das ist kein besonders bestimmendes Kriterium für mich bei der Gemeindewahl. Aber wenn das Weltbild schon sehr eindimensional ist, vieles monokausal statt komplex dargestellt wird und man von irgendwas den Eindruck vermittelt bekommt, das sei auch schon immer dort so gewesen, dann zieht mich das nicht an. Auch wenn ich vielleicht mit vielen Menschen meines Alters dort Kontakt haben könnte.

Ich fand dann zu einer recht kleinen Gemeinde. Mit Freunden war ich mir einig, dass für uns dort das Wichtige war, was nach den Gottesdiensten geschah: die Begegnung mit den unterschiedlichsten Menschen. Also echte Begegnung- nicht bloß Smalltalk. Auch wenn die Gottesdienste eher wenig ansprechend waren und gefühlt alles auf junge Familien zugeschnitten und von diesen maßgeblich bestimmt wurde, so war das „die Gemeinde meiner Wahl“.
Für einen Zeitraum.
Weil irgendwann war ich auch öfters wieder der einzige männliche Mit-Zwanziger, zumindest der einzige Unverheiratete. Es gibt schlimmeres als unter Frauen des gleichen Alters zu sein, aber gleich und gleich gesellt sich halt manchmal auch gerne. Das war vielleicht der erste Knacks. Der zweite kam, als irgendwann die Gottesdienst-Lokalität gewechselt wurde. Weg von einer coolen, gut angebundenen Jazz-Konzert-Location hin zu einer schlecht erreichbaren (wenn man kein Auto hat) Räumlichkeit in einem alten Gebäude im gefühlten Windschatten der Stadt. „Die Kinder hatten keinen Raum“ und man musste mit ihnen eine Straße weiter…
Als urbaner, junger Mensch geht es mir, ich gebe es gerne zu, um gute Erreichbarkeit. Ich bin lauffaul: wenn ich schon 15 min Straßenbahn fahre, dann möchte ich nicht auch noch einmal dieselbe Zeit laufen müssen. Und ich will nach dem Gottesdienst vielleicht noch weiter in ein Café oder Restaurant- und nicht erst noch recherchieren müssen, ob es das in der Umgebung gibt.

Nun bin ich also auch so einer der verschwundenen Mit-Zwanziger geworden: Zugezogen, interessiert, aber nicht fündig geworden. Nicht andocken gekonnt bzw. vor allem gewollt. Ich schlafe Sonntags nun zumeist aus oder frühstücke mit Freunden. Der ‚Presseclub‘ um 12 Uhr ist meine einzige Konstante am Sonntagvormittag. Will ich geistigen Input oder meine Dosis Sakrales, gehe ich in den Gottesdienst der Landeskirche bei der ich im Kirchenbuch stehe, oder an einen Ort, an dem ich Spiritualität persönlich für mich selber verorte: z.B. das Rheinufer, der Dom oder der Kirchenraum meines Arbeitgebers.

Statistisch müsste es eigentlich echt viele von uns geben. Erst recht in Köln. Wie kommt es, dass wir nirgends hängen bleiben? Wobei wir es doch wollen?

Liegt es an unserer Generation, die mit immer neuen Wort-Anhängseln beschrieben wird? Die Generation Web2.0, Generation Krise, Generation Y, Generation Man-sollte-mal, Generation Schmerzensmann, Generation Maybe. Können wir uns nicht gemeindlich binden, wenn es nicht die Gemeinde ist, in der wir aufgewachsen sind? Sind wir generell zu unverbindlich? Vom Überangebot abgestumpft? Oder ist unser Lebensraum, soziales Gefüge und Sinnsuche durch die digitale Welt verlagert? Von dem allem bestimmt ein wenig zu bestimmten Teilen. Vor allem würde ich aber zwei andere Antworten geben: Sinus und Chancen.

Ich stelle immer wieder fest: die Menschen meines Alters, die sich in den mir bekannten Gemeinden tummeln, haben zumeist nicht nur eine andere Biografie, sondern auch einen anderen Musikgeschmack, andere Interessen und andere Gesprächsthemen. Manchmal ist das Y-Chromosom und der fehlende Ring am Finger schon ein Alleinstellungsmerkmal- im Alltag ist die Situation genau umgekehrt. Und tatsächlich: Menschen, mit denen ich mehr Schnittmenge habe, (nicht nur von meinen sozialen Daten) sind eher ausserhalb von Gemeinden zu finden. Wie kann das sein? Ich finde hier das Wort Kultur wichtig. Weil jede Gemeinde hat eine eigene Kultur. Da ich den freikirchlichen Raum erst mit 19 Jahren kennen lernte, stellte ich als ‚Systemfremder‘ dies sehr schnell fest. Zuerst an der Art zu beten, zu reden, mit der Bibel umzugehen, dem Musikgenre und der -auswahl. Später auch an den Interessensschwerpunkten, Gesprächsthemen, Werten.

Und irgendwann lernte ich das Bauch-Gefühl soziologisch zu belegen: Milieus. Enteilung der Bevölkerung nach Bildungsgrad und (Einkommens-)Schichtzugehörigkeit in Verbindung mit individuellen Werten, Interessen und Lebensstilen. Es ist zugleich erschreckend und lustig, eine teilweise haargenau zutreffende Beschreibung seiner selbst zu lesen. Aber auch eine Beschreibung „der anderen“ zu finden, die sich in Gemeinden tummeln- sowohl derer, die in meinem Alter sind, als auch derer, die das Gemeinde-Klima bestimmen. Laut dem Sinus-Institut gibt es in Deutschland unter Erwachsenen 10 unterschiedliche Milieus– lediglich 3-4 werden von (Kirchen)Gemeinden erreicht. Bei Jugendlichen und Jungen Erwachsenen ist die Lage nochmal unterschiedlich, die Tendenz jedoch bleibt: nur wenige ‚Typen‘ versammeln sich üblicherweise in Gemeinden. Der Rest merkt, dass die Kultur dort anders ist, andere Werte und Interessen das Geschehen bestimmen, fühlt sich als Fremde/r. Oder bringt zudem wie ich noch eine Skepsis gegenüber manchen ‚typischen‘ Sitten und Gebräuchen mit sich.
Wenn wir nicht andocken können oder wollen, liegt das auch daran: für uns wird Gemeinde nicht gemacht. Wir sind nicht „Zielgruppe“. Jetzt würden viele wieder bestreiten, dass es etwas wie Zielgruppenausrichtung in Gemeinden gäbe, aber danach wieder Termine, Inhalte, Schwerpunkte, Lieder, Musikstile, etc. nach eigenem Gutdünken auswählen. Den Verantwortlichen der beiden Volkskirchen ist das schon länger bewusst und es gibt bereits sehr sehr gutes Material, welches die Milieus auf ihre Vorstellungen von Kirche abklopft und Möglichkeiten der Gestaltung aufzeigt. Bisher tut sich in diesem Bereich der Gemeindelandschaft jedoch leider auch wenig.

Ironischerweise würde ich die Lage aber auch gleichzeitig so einschätzen: hätte sich ein Pfarrer oder Pastor echt um uns bemüht; uns Chancen gegeben, Dinge anders zu machen, uns auszuprobieren- ich wüsste einige Personen, die sich zu diesen Gemeinden verorten würden. Aber ich wurde nie mit anderen, die „so sind wie ich“, eingeladen, uns wurde nie die Möglichkeit eröffnet Sachen von uns für uns zu entwickeln. Wir dürfen uns immer nur dazugesellen, anpassen und im besten Fall mitarbeiten. Aber mitsprechen? Auch mal Dinge anders machen? Frei nach Einstein: Probleme werden nicht mit der selben Denkweise gelöst, mit der sie entstanden sind. Will man uns ‚fehlende Generation‘ wiedergewinnen oder uns Haftungspunkte geben, geht das nicht mit dem Angebot von bisher, welches scheinbar nicht wirkt (…für uns! Für andere schon!). Ja, wenn wir statt dem 10 Uhr Gottesdienst bspw. ein „gottesdienstähnliches Mittagessen“ gestalten würden, würden wir wahrscheinlich nicht zur morgendlichen Veranstaltung kommen, das stimmt. Aber wir würden wenigstens kommen…

Eine Studie ging einmal der Gefühlslage der Generation zwischen 19-29 nach. In der Zusammenfassung besagter Studie steht Folgendes:

Neben der hohen Mitarbeit und dem Bedarf Probleme offen zu diskutieren, suchen junge Erwachsene vermehrt die Mitsprache innerhalb der Gemeinde. Im Vorfeld hat sich gezeigt, dass Mitbestimmung in der eigenen Gemeinde sehr wichtig für jE ist. Dazu gehört auch, dass jE die Möglichkeit haben, eigene Ideen in Gemeinden umzusetzen. Diese Möglichkeit wird wahrgenommen, wenn jE wissen, dass ihre Kritik/Meinung von der Gemeindeleitung ernst genommen wird und sie somit auch als Teil der Gemeinde gesehen werden. Neue Ideen werden eher umgesetzt, wenn jE sich in der Gemeinde wohl fühlen. Quelle

Also liebe Pfarrer und Pastoren: schnappt euch die Gemeinde-Touristen, ladet sie ein, esst mit ihnen, hört ihnen zu, gebt ihnen eine Plattform, eine Bühne. Lasst sie kreativ werden. Und vielleicht dürft ihr beim nächsten Willow-Kongress vorstellen, wie ihr es geschafft habt, relevant zu werden für Twenty-Somethings! 😉
Weil: Uns gibt es! Wir sind zumeist sogar noch darüberhinaus interessiert und willig! Aber wir wollen auch ernstgenommen werden, auch einen Raum für uns haben, anders sein dürfen… Gemeinde ist uns nicht egal, aber sie macht sich leider allzu oft selber für uns egal.

Ein Freund von mir hat es nun gewagt und ist nach gefühlt 10 Jahren Beziehung und 4 Jahren Verlobung bei quasi feststehendem Hochzeitstermin mit seiner Verlobten zusammengezogen. Was für Menschen ausserhalb von konservativen evangelikalen Gemeinden fast sogar ein wenig spießig-prüde wirkt, wurde von einer Führungsperson der Gemeinde, die er öfters besucht, so kommentiert: „Wir als Gemeinde hätten dir wahrscheinlich nicht dazu geraten…“

Ich kann verstehen, dass man manche Schritte vor einem konservativen Werte-Hintergrund nicht ebenso machen würde und Ansichten nicht teilen muss. Davon lebt unser gesellschaftlicher Diskurs.

Ich kann auch nachvollziehen, wenn man eine Handlung eher ablehnt und als „seines Bruders Hüter“ dieses äussert. Davon lebt vor allem unser politischer Diskurs.

Aber ich finde schlimmer, was alles nicht gesagt wird. Das man sich als religiöse Instanz das Recht zu Kommentieren herausnimmt gestehe ich jedem zu- aber warum ist es meistens so einseitig? Warum hört man folgende Sätze nicht öfters?

„Als Gemeinde würden wir euch nicht dazu raten, den Zweitwagen/diesen SUV/ so einen teuren Wagen zu kaufen!“

„Wir bieten übrigens Seminare zum Thema „Auswege aus der Konsumgesellschaft“ an.“

„Uns als Gemeinde sind die Werte Bescheidenheit, Teilen und Zufriedenheit sehr wichtig. Wir werden in nächster Zeit echt mal ans Eingemachte gehen und unser Verhalten und Prioritäten untersuchen- auch anhand unserer Kontoauszüge. Macht ihr mit?“

„Wir würden euch abraten, euer Geld  bei der Deutschen Bank anzulegen!“

„Wir als Gemeinde versuchen ja gemeinsam mit anderen Menschen, an einer Welt ohne ständiges Wachstum und Zinsen zu arbeiten. Engagiert euch doch mit, wir haben erst bald wieder einen Workshop…“

„Als Gemeinde hätten wir euch von den ganzen Flugreisen abgeraten!“

„Wir hätten euch nicht zum Erwerb dieses Smartphones/Mac-Books/iMacs geraten. Es gibt viel günstigere gleichwertige Produkte! Das gesparte Geld könnt ihr gemeinnützigen Zwecken zukommen lassen!“

„Als Gemeinde beraten wir euch gerne in Sachen Benzin- und Energie-Sparen und energetische Sanierungen!“

„Ah, ihr habt euch also ein Eigenheim in einem Trendviertel gekauft? Wir als Gemeinde hätten euch von dem Mitmischen bei der Gentrifizierung abgeraten“

„Wir als Gemeinde würden euch nicht dazu raten, dass ihr eure Kinder auf „bessere Schulen“ mit geringerem Ausländeranteil schickt, und somit zur Ghettoisierung beitragt.“

„Wir als Gemeinde würden von der Wahl der FDP und CSU dringend abraten- genauso wie dem FC Bayern anzuhängen!“ 🙂

Häufig legitimiert sich der Widerspruch gegen ein Verhalten als das biblische „Salz&Licht“ sein, oder „prophetisches Zeichen“ sein. Die Frage, die sich mir dann nur stellt ist: Warum lebt man „prophetisch“ (also gesellschaftskritisch anders) vor allem nur mit Sexualethik (Betonung des ehelichen Geschlechtsverkehr, Einsetzten für bürgerliche „Familien-Werte“ und häufig patriarchalisch-kulturelle Rollenbilder, Einsetzen gegen Abtreibung)- aber blendet so vieles andere dafür aus? (vor allem Geld und alles was damit zusammenhängt?). Zudem kann man fragen, warum meistens das kritisiert wird, was man selber nicht tut oder nicht selber davon betroffen ist? (bspw. rügt ein verheirateter Pastor die „wilde Ehe“ oder Heterosexuelle homosexuelle Lebensformen). Und wenn ich mir die tatsächlichen Propheten anschaue, dann finde ich dort weniger sexualethische Kritik. Sondern viel öfters finde ich soziale Gerechtigkeit als Parameter um die Frömmigkeit zu kritisieren-oder eben als Indikator für die Gottesbeziehung. Warum taucht das nicht auf? (Luxus zum Beispiel ist ein beliebtes Kritik-Ziel (vgl.) und Bereicherung auf Kosten von Armen (vgl.) . Diese Eintönigkeit (nicht nur in diesem Bereich) stört mich echt- und macht mich auf der anderen Seite wieder glücklich, (mittlerweile) zur ev. Kirche zu gehören, die sich ein viel weiteres Maß an Ausgewogenheit gönnt und (in meiner Wahrnehmung) wesentlich reflektierter und differenzierter ihre Stimme erhebt. Weil schlimmer als das, was gesagt wird, das Fehlen von dem ist, was alles nicht gesagt wird…

Mahatma Gandhi soll einmal die sieben sozialen Sünden unserer modernen Gesellschaft wie folgt beschrieben haben:

Politik ohne Prinzipien
Reichtum ohne Arbeiten
Genuss ohne Gewissen
Wissen ohne Charakter
Geschäft ohne Moral
Wissenschaft ohne Menschlichkeit
Religion ohne Opfer

Die Thesen ‚Reichtum ohne Arbeiten‘, ‚Genuss ohne Gewissen‘ und ‚Religion ohne Opfer‘ beleuchten aus meiner Sicht ein- und denselben Gedanken in drei Dimensionen. Es geht jeweils um etwas, was man nur für sich empfangen oder haben möchte, ohne die Verantwortung oder Aufwand dahinter- Preis ohne Fleiß. ‚Rosinen picken‘ auf materieller, Konsumenten- und religiöser Ebene. Es passt irgendwie gut in unsere Instant-Gesellschaft mit unserer Iphone-Spiritualität.

Vor knapp einem Jahr besuchte ich einen Gottesdienst einer kleinen Gemeinde in einer typischen west-deutschen Kleinstadt. Vor dem Kirchengebäude findet man klischeehaft die Kombi- und Limosinen-Varianten nahmhafter Autofabrikanten in der Preisklasse um das ein- bis zweifache deutsche Durchschnitts-Jahresgehalt. Ein paar Zeilen des Small-Talks nach dem Geschehen befremdeten mich: Da wird über die Job-mäßige und Lebensstandard-technische Verbesserung ausgetauscht und man vergewissert sich gegenseitig wie überreich Gott doch segne. (Die Frage, warum er immer nur die obere Mittelschicht segnet in dem gleichen Maße, wie der nicht-religiöse Nachbar XY gleicher Lebensqualität und Bildungsstands auch scheinbar gesegnet wird, aber nicht die Gläubigen in anderen wirtschaftlich-präkeren Kontexten (siehe Indien, Afrika, Südamerika etc. -also der Großteil der christlichen Welt-Bevölkerung) verkneife ich mir).

Was dem Geschehen und der Szenerie eine seltsame Ironie verleiht ist eine kleine Rand-Anekdote, die wahrscheinlich nur mir aufgefallen ist. Eigentlich sogar zwei. Da es sich bei dem Gottesdienst um eine Hochzeit handelte (und zudem noch in einer christlichen Sondergemeinschaft mit exklusivem Selbstverständnis) ist der Prediger sichtlich bemüht den Glauben den Anwesenden anderen Glaubens und Bekenntnisses schmackhaft zu machen. (nicht den allgemeinen christlichen Glauben, sondern den exklusiven, aber das ist für ihn deckungsgleich). Er betont sehr häufig den glaubensfördernden Charakter von „Gebetserhörungen“, und dass diese einen wichtigen Platz in der zyklischen Auf- und Abbewegung des Glaubensalltags hätten. Gebetserhörung- also ich erbitte etwas und Gott erhört dies. Oder anders ausgedrückt: ich reiche einen Antrag ein und kriege ihn bewilligt. Gott tut was ich will. Ich stehe im Zentrum- nicht Gott. Dieser wird gewissermaßen zur Hebelkraft meines Anliegens- aber dazu später mehr.

Nach der Predigt soll ein allgemein gesungenes Lied diese Einladung zum Glauben unterstreichen. Ein Lied, welches die Einzigartigkeit des Evangeliums besingt (und eigentlich echt schön ist- alt und amerikanisch kitschig- aber schön). Der Titel: eine Botschaft voll Erbarmen. Eine Art Methodisten-Schlager aus dem 19. Jahrhundert. Ein paar Zeilen des Lieds:

Eine Botschaft voll Erbarmen,
hoch aus Gottes Heiligtum,
eine Botschaft für die Armen
ist das Evangelium. […]

Sein Geheimnis heißet Gnade,
und der Arme fasst’s allein,
und der Ärmste ist’s gerade,
der darf sprechen: Sie ist mein.

Als eine Art „Fan“ von John Wesley und dem frühen Methodismus gefallen mir diese Zeilen sehr. Ja- wahrscheinlich versteht nur der Arme was tatsächlich Gnade ist und ja- das Evangelium ist zuerst vor allem auch eine frohe Botschaft an die Armen. Welche Strömung christlicher Theologie würde dem nicht zustimmen? Der Katholizismus hat dies sogar mit der ‚Option für die Armen‘ in theologischen Beton gegossen, die ewig weltverbessernde und gutmenschelnde evangelische Kirche gibt ebenso ihr „Amen dazu“. Selbst der blinde Fleck der Evangelikalen in dieser Hinsicht (auch nur 200 Jahre alt) wird in den letzten Jahren von ebendiesen entdeckt und angegangen.

Gehen in dem Moment nur mir bei diesem Lied der Sinn des Liedes auf? All die leitenden Angestellten im feinen Zwirn singen dieses Lied und steigen nachher in ihre Audis, BMWs etc.. Nach dem Gottesdienst noch ein Pläuschen mit eben erwähntem Segensverständnis. Fasst tatsächlich „der Arme es allein“?

Das „Wohlstandsevangelium light“ ist in unserem bürgerlichen Kirchen-Kulturkreis nicht nur längst salonfähig, sondern sogar in gewisserweise in die DNA der Volksfrömmigkeit eingewebt. In einem Gespräch ein paar Tage später muss ich mich gegenüber Christen implizit verteidigen, warum ich beruflich „so wenig“ aus meinen Chancen gemacht habe und „nur“ eine pädagogisch-theologische Ausbildung und mein Leben in den Niederrungen des BAT verbringen werde (den manche besser verdienenden Freunde von mir ein „ewiges Armutsgelöbnis“ nennen). „Erniedrigung“ (um es mit Bibel-Deutsch zu sagen) kommt in ihrer christlichen Logik irgendwie nicht vor.

Das Wesen von Nachfolge besteht doch aber nach Jesus und dem NT in der Erniedrigung und nicht in der Erhöhung.(und ich bin wahrhaft kein Held in der Nachfolge- das ist auch mir sehr bewusst! (siehe dazu auch hier)) Die unausgesprochenen Glaubensinhalte unserer mittelständischen, westlichen Kirchenkultur haben viel mit der Botschaft amerikanischer Fernsehevangelisten gemein. Manchmal kommt es mir vor, als würde man über einen niedrigen Aufzug sprechen: zum Eintritt mal kurz den Kopf einziehen und dann gehts nach oben. Eine kurze Erniedrigung, sich einmal Gott unterwerfen, und dann erhöht einen Gott und es geht aufwärts. Religion ohne Opfer- ich empfange, ohne dass es mich wirklich etwas kostet. Ich und meine Bedürfnisse stehen im Mittelpunkt: bildhaft gesprochen bin ich Sonne und Gott Erde, die um die Sonne kreist. Oder wir sind so etwas wie zwei Sonnen die umeinander kreisen.

Eigentlich kann man aus diesem Gedanken schon die Denkart herauslesen, die sein Zustandekommen bewirkt: ein Aufstiegsdenken. Und selbstverständlich ist dieses dann in der Logik einer aufstiegsorientierten Kultur, die sich in den Kirchengebäuden versammelt, stimmig (der klassische Zirkelschluss). Dass der soziale Aufstieg jedoch erst seit weniger als 200 Jahren möglich ist und demnach diese Denkweise maximal ebenjene Jahresanzahl besitzen kann, ist noch nicht wirklich durchgedrungen. Wie könnte ein solcher Gedanke auch in der armen Gesellschaft der Antike verortet sein?).

Alljährlich lesen wir das Magnificat um die Weihnachtszeit herum. Kriegen wir diese erschreckenden Zeilen darin überhaupt noch mit:

Er stürzt die Mächtigen vom Thron
und erhöht die Niedrigen.

Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben
und lässt die Reichen leer ausgehen.

„Lässt die Reichen leer ausgehen?“ Wie passt dies in die Botschaft, die Usus in unserer Gemeindelandschaft ist? Nicht nur Josef Ackermann ist „der Reiche“ oder „der Mächtige“….

Scheinbar sieht das NT hier Gott in einer Rolle des Lift-Boys: wer schon nach oben gefahren ist, wird hinabtransportiert, und wer nie Aufgefahren ist, dem wird diese Ehre zuteil. Gewissermaßen die schlussendliche Abrechnung von Religion und Opfer. Aber diese Botschaft ist so brisant und gefährlich, dass wir sie glatt bügeln, überhören, vergessen, nicht wahrnehmen. Oben erwähnter John Wesley soll gesagt haben, dass er sich unsicher gewesen sei, ob er das Evangelium recht verkündet hätte, wenn man ihn nicht zur Stadt hinausgetrieben habe. Und wenn man nach seinem Tod mehr als 10 Pfund in seiner Tasche finden sollte, sollte er als Lügner gelten.

Nachfolge kann aus meiner Sicht für uns hier im reichen Westen konsequenterweise nur ein Weg der Erniedrigung sein, wenn ich gewissermaßen von „oben“ auf die Gesamtheit schaue. Wie kann ein „liebender Vater“ das eine Kind mit Gaben überhäufen, während das andere daneben verhungert?? Das ist doch ein in sich unstimmiges Bild! Nachfolge Christi bedeutet Teilen und das Streben nach Einfachheit. Und ich bin froh, dass Orte wie Taizé glaubhaft und zum Anfassen eine andere Botschaft verkünden und im wachsenden Maße mehr und mehr Leute inspirieren! Und auch mir diese Lektion immer wieder und wieder vor Augen halten- weil auch ich sie immer wieder dringend lernen muss! Weil ich zwar vielleicht nicht im Aufzug höher fahren will- aber auch nicht abwärts! Und meine Religion manchmal auch ganz gut ohne Opfer auskommt…

Es ist der Sommer 2010. Herren-WM-Zeit. Nach einem gewonnenen Spiel der deutschen Männer-Nationalmannschaft und anschließendem Feiern und Ausklingen gehe ich um ca. 1 Uhr nachts an einer Tankstelle vorbei, unweit dem Wonheim, in dem ich damals lebte. Auf der anderen Seite steht ein einzelner Mann. „Bist du alleine?“ schreit er rüber. Ich gehe im Kopf kurz die Sachen durch, die ich dabei habe und stelle fest, dass dies lediglich mein Schlüssel ist, ich also nicht viel im Fall der Fälle zu verlieren habe.

„Ja!“ rufe ich zurück. „Komm, dann trinken wir noch einen!“ lädt er mich ein. Ich wechsel also die Straßenseite (viel verlieren kann ich wie gesagt ja nicht, und sollte es zur Schlägerei kommen, bin ich fluchttechnisch im Ortsvorteil). Mein anfängliches Misstrauen erweist sich aber als völlig unbegründet. Ronnie, so heißt der Mann von der anderen Straßenseite, ist ein lieber Kerl (hat sich nichtsdestotrotz an dem Abend schon geprügelt). Nachdem wir uns vorgestellt haben, frage ich ihn, ob er aus den Neuen Bundesländern kommen würde. „Ne, aus den Alten- ich bin Ossi!“

Wir gehen zum Nachtschalter und Ronnie kauft uns ein paar Bier. Ich entdecke auf seinem Unterarm den Fraktur-Schriftzug „David“ und frage, ob David sein Sohn sei. Ja Dävid (englische Aussprache) sei sein Sohn. Wir kommen also ins Schwätzchen über Familie und Leben im Allgemeinen. Ronnie erzählt, dass er mal Neo-Nazi war und immer noch leicht rechts (gibt nichtsdesto trotz seinem Sohn einen hebräischen Namen- Respekt!).

Das Leben hat Ronnie nicht so gut mitgespielt. Teils fremdverschuldet, teils eigenverschuldet geriet er von einem Job zum anderen, selten reicht die Kohle auf dem Konto aber zum durchkommen. Ich als Mittelstands-Kind, welches weiß, nach welchen Regeln es spielen muss um aufzusteigen und erfolgreich zu sein, komme mir ein wenig schlecht vor im Angesicht von jemandem, der nicht dieses Privileg geniessen durfte.

Wir trinken also an einer Bushaltestelle unser nächtliches Bier weiter und Ronnie erzählt viel. Von Chefs, die das Gehalt zurückhalten, gegen die er gerade vor Gericht prozessiert (was aber auch nicht hilft, weil man während diesen langen Zeitraums ja auch kein Geld bekommt). Er erzählt von Rückenbeschwerden, die einfach in einem handwerklichen Job irgendwann kommen. Von Problemen mit Schwägern und Familie- von einer manchmal anstrengenden Frau. Er scheint nicht glücklich mit seinem Leben zu sein.

Wir kommen auf mich zu sprechen. Ich erzähle ihm, dass ich was mit Theologie und Pädagogik mache und unser Gespräch schwenkt auf Religion um, was mir ganz Recht ist, weil meine bisherige Annahme, das jeder seines Glückes Schmied ist, doch ziemlich ins Wanken gerät. Ronnie kann man gut und gerne als spirituell bezeichnen, obwohl er dieses Wort nie gebrauchen würde. Er glaubt an etwas und versucht mit diesem in Kontakt zu kommen (manchmal) und es dazu zu bewegen, dass Schicksal in seiner Sache zu verbessern. „So Kirchenleute“ wie mich, hat er noch nicht kennengelernt meint er. Nachdem Ronnie eine neue Runde Bier geholt hat reden wir noch ein wenig weiter und verabschieden uns dann. Insgesamt hat er mehr geredet als ich und meine säuberlichen Konflikt-Lösungsmodelle aus der Theorie haben am Beispiel seines Konflikts mit dem Schwager mittelmäßige Praxiserfahrungen gemacht. Ich wünsche Ronnie vom Herzen alles gute und sage, dass ich finde, das Leben habe ihm schon manchmal ziemlich in die Suppe gespuckt. Ich als „Kirchenmensch“ würde aber versuchen, meine Verbindungen nach oben zu benutzen, um ein gutes Wort für ihn einzulegen.

Die Augen von Ronnie, von dem ich in dieser kurzen Zeit viel gelernt habe, werden in diesem Moment feucht (scheinbar hat er so etwas nicht häufig gehört) und ich frage mich, wie eigentlich Kirche und ‚Kirchenleute‘ aussehen müssten, damit Ronnie auch etwas finden könnte, wo er aufgenommen ist und kein Fremdling. Etwas, was die Botschaft in seine Sprache, Denkweisen und Kulturräume trägt, und nicht nur erwartet, dass man sich in eine bürgerliche Umwelt und Kultur hineinbekehrt und anpasst. Vielleicht könnte diese Art von Begegnung ja ein Ansatz eines solchen Wegs sein-  selbst ein Stammtisch würde als Ort der Begegnung dann zu etwas wie einem quasi-kirchlichen Raum. Jens Stangenberg schreibt in seinem Buch, dass das Wesen von Kirche eigentlich eher einer großen Wohnküche ähnelt, als einem Hörsaal. Spontane, echte, authentische Begegnungen im Alltag- vielleicht ist das DIE Lektion, die ich von Ronnie lernte. So würde man evtl. auch die drohende Homogenität in vielen Gemeinden etwas abmildern können. Bei jemandem in den 30ern aus der Arbeiterklasse und einem intellektuellen Mitzwanziger aus der Oberen Mittelschicht konnte dies schon nur mit einer Tank- und Bushaltestelle und ein paar nächtlichen Bieren geschehen.

Versuch von Antworten. Was denkst du?

Das Prinzip einer missionalen Gemeinde (in Abgrenzung zu einer missionarischen) in 2 Minuten erklärt. Ich schätze diese Sichtweise sehr, weil sie den Menschen ins Zentrum rückt, nicht eine Organisation oder den eigenen Kirchturm. Es geht um die Sache, nicht die Adresse! Und so bleibt Kirche/Gemeinde dynamisch und kann sich auf die Welt des 21. Jahrhunderts einstellen- wird langsam nämlich Zeit.

Ein überengagiert wirkender junger Mann unterbricht mein nichtsahnendes Schlendern durch die Innenstadt abrupt. Er sei Daniel. „Nein, ich bin mit meinem Mobilfunkbetreiber zufrieden, über Krampfadern-Gefahr möchte ich nicht aufgeklärt werden und dem ASB auch nicht beitreten- obwohl ich ihn als eine gute Einrichtung empfinde“. Das wolle er doch gar nicht. Er will mir das beste Geschenk machen, was ich je bekommen könnte.

„Kennst du schon Bharma?“ „Nein!“ (eigentlich will ich ja nur weiter und in dem Moment dämmert es mir, dass ich dem jungen Mann, der zwar nicht wie ein Aussenseiter wirkt, aber auch nicht wie einer, der in der Schule die Mengen um sich sammelte, genau die falsche Antwort gegeben habe) „Bharma ist der Weg zu Ghoda und wenn du ihm dein Leben übergibts, kannst du der Hölle der ewigen Wiedergeburt entkommen!“ Er erwartet nun wohl eine Reaktion von mir. Da ich nicht an Bharma glaube und auch nicht an sein Konzept von Ghoda gehen seine Worte gewissermaßen an mir vorbei- das scheint er jedoch zu bemerken.

„Willst du denn ewig Wiedergeboren werden und nicht irgendwann Frieden finden?“ „Natürlich nicht!“ „Ja siehst du, aber da du in Shin lebst, trennt dich das von Ghoda und nur mit Ghoda kannst du die Qual der ewigen Wiedergeburt überwinden!“ „Aber ich glaube gar nicht an einen kreisförmigen Verlauf der Zeit!“ „Aber Riksha, das Wort Ghodas sagt uns, dass es so ist und so kommen wird!“ Ich denke mir:’Schön für ihn. Ich glaube weder an Ghoda und demnach auch nicht Riksha, wie soll er mich dann mit solchen Behauptungen überzeugen?‘ antworte aber nur mit einem matten „Aha“.

Bharma macht dich frei von Shin und du kannst die Ewigkeit mit Ghoda verbringen! Ist das nicht ein super Nachricht?“ Super! Ein sarkastischer Teil in mir überlegt sich welche trockene Antwort ihn nun endlich zum Schweigen und mich zu meinem weiteren Bummel bringen würde. „Und das Ganze kostet nichts- du musst ihm nur dein Leben übergeben!“

Leben übergeben? Was meint das? Wie bei einem Sekten Guru mein Haus überschreiben, mein Gehalt ebenso? In diesen komischen Klöstern leben mit dem Haufen von Daniels Freunden, die in seiner Nähe um einen Bistrotisch herum zu irgendwelchem Sakro-Pop auch Leute bequatschen, gemeinsam in ein Haus ziehen? „Willst du das jetzt tun und das beste Geschenk jemals annehmen?“ „Äääääääh….nein“ „Darf ich dann wenigstens jetzt für dich beten?“

Mir schwant etwas von einer spirituellen Belastung die er auf mich legen wird, oder irgendwelche geistlichen Mächte auf mich ansetzten, dass ich dann doch irgendwann zu Bharma getrieben werde. Deshalb antworte ich ausweichend, dass ich dringend weiter müsse und keine Zeit habe. Er holt ein paar Flyer und ein komisch aussehendes Büchlein, was sich als Riksha erweist. „Und hey- Bharma liebt dich!“ Ich bin beeindruckt…..mein Sarkasmus will wieder etwas loswerden in der Richtung, dass mir das so egal sei, wie als ob auf dem Mond kleine grüne Männchen leben würden, weil beides für mich nicht existiert. „Wenn du dich mal alleine fühlst, dann denk einfach daran, dass Bharma dich liebt und immer für dich da ist“ Das ist auch mein Finanzminister schreit mein Sarkasmus in mir „ich kenne niemanden, der nicht gerne geliebt wird. Und es gibt keine größere Liebe als Bharmas!. Ghoda blehes dich!“ Endlich bin ich frei und kann weitergehen!

Ich höre noch wie Daniel an den Bistro Tisch zurückkehrt und gefragt wird wie es lief. „Ganz gut, ich habe ihm das Erygnelyon weitergegeben und auch die Riksha hat er angenommen. Jetzt können wir nur noch beten und warten!“ Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Ich gehe an diesem sonnigen Tag weiter und bin glücklich, dass meine Religion Gott sei dank nicht so unverständlich und Angstmachend ist…