Mahatma Gandhi soll einmal die sieben sozialen Sünden unserer modernen Gesellschaft wie folgt beschrieben haben:
Politik ohne Prinzipien
Reichtum ohne Arbeiten
Genuss ohne Gewissen
Wissen ohne Charakter
Geschäft ohne Moral
Wissenschaft ohne Menschlichkeit
Religion ohne Opfer
Die Thesen ‚Reichtum ohne Arbeiten‘, ‚Genuss ohne Gewissen‘ und ‚Religion ohne Opfer‘ beleuchten aus meiner Sicht ein- und denselben Gedanken in drei Dimensionen. Es geht jeweils um etwas, was man nur für sich empfangen oder haben möchte, ohne die Verantwortung oder Aufwand dahinter- Preis ohne Fleiß. ‚Rosinen picken‘ auf materieller, Konsumenten- und religiöser Ebene. Es passt irgendwie gut in unsere Instant-Gesellschaft mit unserer Iphone-Spiritualität.
Vor knapp einem Jahr besuchte ich einen Gottesdienst einer kleinen Gemeinde in einer typischen west-deutschen Kleinstadt. Vor dem Kirchengebäude findet man klischeehaft die Kombi- und Limosinen-Varianten nahmhafter Autofabrikanten in der Preisklasse um das ein- bis zweifache deutsche Durchschnitts-Jahresgehalt. Ein paar Zeilen des Small-Talks nach dem Geschehen befremdeten mich: Da wird über die Job-mäßige und Lebensstandard-technische Verbesserung ausgetauscht und man vergewissert sich gegenseitig wie überreich Gott doch segne. (Die Frage, warum er immer nur die obere Mittelschicht segnet in dem gleichen Maße, wie der nicht-religiöse Nachbar XY gleicher Lebensqualität und Bildungsstands auch scheinbar gesegnet wird, aber nicht die Gläubigen in anderen wirtschaftlich-präkeren Kontexten (siehe Indien, Afrika, Südamerika etc. -also der Großteil der christlichen Welt-Bevölkerung) verkneife ich mir).
Was dem Geschehen und der Szenerie eine seltsame Ironie verleiht ist eine kleine Rand-Anekdote, die wahrscheinlich nur mir aufgefallen ist. Eigentlich sogar zwei. Da es sich bei dem Gottesdienst um eine Hochzeit handelte (und zudem noch in einer christlichen Sondergemeinschaft mit exklusivem Selbstverständnis) ist der Prediger sichtlich bemüht den Glauben den Anwesenden anderen Glaubens und Bekenntnisses schmackhaft zu machen. (nicht den allgemeinen christlichen Glauben, sondern den exklusiven, aber das ist für ihn deckungsgleich). Er betont sehr häufig den glaubensfördernden Charakter von „Gebetserhörungen“, und dass diese einen wichtigen Platz in der zyklischen Auf- und Abbewegung des Glaubensalltags hätten. Gebetserhörung- also ich erbitte etwas und Gott erhört dies. Oder anders ausgedrückt: ich reiche einen Antrag ein und kriege ihn bewilligt. Gott tut was ich will. Ich stehe im Zentrum- nicht Gott. Dieser wird gewissermaßen zur Hebelkraft meines Anliegens- aber dazu später mehr.
Nach der Predigt soll ein allgemein gesungenes Lied diese Einladung zum Glauben unterstreichen. Ein Lied, welches die Einzigartigkeit des Evangeliums besingt (und eigentlich echt schön ist- alt und amerikanisch kitschig- aber schön). Der Titel: eine Botschaft voll Erbarmen. Eine Art Methodisten-Schlager aus dem 19. Jahrhundert. Ein paar Zeilen des Lieds:
Eine Botschaft voll Erbarmen,
hoch aus Gottes Heiligtum,
eine Botschaft für die Armen
ist das Evangelium. […]
Sein Geheimnis heißet Gnade,
und der Arme fasst’s allein,
und der Ärmste ist’s gerade,
der darf sprechen: Sie ist mein.
Als eine Art „Fan“ von John Wesley und dem frühen Methodismus gefallen mir diese Zeilen sehr. Ja- wahrscheinlich versteht nur der Arme was tatsächlich Gnade ist und ja- das Evangelium ist zuerst vor allem auch eine frohe Botschaft an die Armen. Welche Strömung christlicher Theologie würde dem nicht zustimmen? Der Katholizismus hat dies sogar mit der ‚Option für die Armen‘ in theologischen Beton gegossen, die ewig weltverbessernde und gutmenschelnde evangelische Kirche gibt ebenso ihr „Amen dazu“. Selbst der blinde Fleck der Evangelikalen in dieser Hinsicht (auch nur 200 Jahre alt) wird in den letzten Jahren von ebendiesen entdeckt und angegangen.
Gehen in dem Moment nur mir bei diesem Lied der Sinn des Liedes auf? All die leitenden Angestellten im feinen Zwirn singen dieses Lied und steigen nachher in ihre Audis, BMWs etc.. Nach dem Gottesdienst noch ein Pläuschen mit eben erwähntem Segensverständnis. Fasst tatsächlich „der Arme es allein“?
Das „Wohlstandsevangelium light“ ist in unserem bürgerlichen Kirchen-Kulturkreis nicht nur längst salonfähig, sondern sogar in gewisserweise in die DNA der Volksfrömmigkeit eingewebt. In einem Gespräch ein paar Tage später muss ich mich gegenüber Christen implizit verteidigen, warum ich beruflich „so wenig“ aus meinen Chancen gemacht habe und „nur“ eine pädagogisch-theologische Ausbildung und mein Leben in den Niederrungen des BAT verbringen werde (den manche besser verdienenden Freunde von mir ein „ewiges Armutsgelöbnis“ nennen). „Erniedrigung“ (um es mit Bibel-Deutsch zu sagen) kommt in ihrer christlichen Logik irgendwie nicht vor.
Das Wesen von Nachfolge besteht doch aber nach Jesus und dem NT in der Erniedrigung und nicht in der Erhöhung.(und ich bin wahrhaft kein Held in der Nachfolge- das ist auch mir sehr bewusst! (siehe dazu auch hier)) Die unausgesprochenen Glaubensinhalte unserer mittelständischen, westlichen Kirchenkultur haben viel mit der Botschaft amerikanischer Fernsehevangelisten gemein. Manchmal kommt es mir vor, als würde man über einen niedrigen Aufzug sprechen: zum Eintritt mal kurz den Kopf einziehen und dann gehts nach oben. Eine kurze Erniedrigung, sich einmal Gott unterwerfen, und dann erhöht einen Gott und es geht aufwärts. Religion ohne Opfer- ich empfange, ohne dass es mich wirklich etwas kostet. Ich und meine Bedürfnisse stehen im Mittelpunkt: bildhaft gesprochen bin ich Sonne und Gott Erde, die um die Sonne kreist. Oder wir sind so etwas wie zwei Sonnen die umeinander kreisen.
Eigentlich kann man aus diesem Gedanken schon die Denkart herauslesen, die sein Zustandekommen bewirkt: ein Aufstiegsdenken. Und selbstverständlich ist dieses dann in der Logik einer aufstiegsorientierten Kultur, die sich in den Kirchengebäuden versammelt, stimmig (der klassische Zirkelschluss). Dass der soziale Aufstieg jedoch erst seit weniger als 200 Jahren möglich ist und demnach diese Denkweise maximal ebenjene Jahresanzahl besitzen kann, ist noch nicht wirklich durchgedrungen. Wie könnte ein solcher Gedanke auch in der armen Gesellschaft der Antike verortet sein?).
Alljährlich lesen wir das Magnificat um die Weihnachtszeit herum. Kriegen wir diese erschreckenden Zeilen darin überhaupt noch mit:
Er stürzt die Mächtigen vom Thron
und erhöht die Niedrigen.
Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben
und lässt die Reichen leer ausgehen.
„Lässt die Reichen leer ausgehen?“ Wie passt dies in die Botschaft, die Usus in unserer Gemeindelandschaft ist? Nicht nur Josef Ackermann ist „der Reiche“ oder „der Mächtige“….
Scheinbar sieht das NT hier Gott in einer Rolle des Lift-Boys: wer schon nach oben gefahren ist, wird hinabtransportiert, und wer nie Aufgefahren ist, dem wird diese Ehre zuteil. Gewissermaßen die schlussendliche Abrechnung von Religion und Opfer. Aber diese Botschaft ist so brisant und gefährlich, dass wir sie glatt bügeln, überhören, vergessen, nicht wahrnehmen. Oben erwähnter John Wesley soll gesagt haben, dass er sich unsicher gewesen sei, ob er das Evangelium recht verkündet hätte, wenn man ihn nicht zur Stadt hinausgetrieben habe. Und wenn man nach seinem Tod mehr als 10 Pfund in seiner Tasche finden sollte, sollte er als Lügner gelten.
Nachfolge kann aus meiner Sicht für uns hier im reichen Westen konsequenterweise nur ein Weg der Erniedrigung sein, wenn ich gewissermaßen von „oben“ auf die Gesamtheit schaue. Wie kann ein „liebender Vater“ das eine Kind mit Gaben überhäufen, während das andere daneben verhungert?? Das ist doch ein in sich unstimmiges Bild! Nachfolge Christi bedeutet Teilen und das Streben nach Einfachheit. Und ich bin froh, dass Orte wie Taizé glaubhaft und zum Anfassen eine andere Botschaft verkünden und im wachsenden Maße mehr und mehr Leute inspirieren! Und auch mir diese Lektion immer wieder und wieder vor Augen halten- weil auch ich sie immer wieder dringend lernen muss! Weil ich zwar vielleicht nicht im Aufzug höher fahren will- aber auch nicht abwärts! Und meine Religion manchmal auch ganz gut ohne Opfer auskommt…