Jung, städtisch, gläubig- Wo sind wir alle hin??

Veröffentlicht: 27. Januar 2013 in Kirche- (m)ein Traum
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Ich habe es ja ehrlich versucht… Ich wollte, dass es ganz anders kommt, wollte einen Unterschied machen… Vorsätze, Ansätze und Wollen war da- und nun bin ich doch ganz genau so einer geworden. Aber der Reihe nach:
Vor 2,5 Jahren zog ich in die Millionenstadt Köln. Nach einem Jahr im Dienste der evangelischen Kirche sah ich mich in einer Übergangszeit zwischen zwei Jobs nach Gemeinden um, die man besuchen könnte. Ich wusste bereits vom mysteriösen Verschwinden der Twenty-Somethings aus Gemeinden; kannte die Statistiken, die von der statistischen Verweiblichung der Gemeinden Zeugnis ablegten. Aber in einer mondänen, lebendigen Stadt wie Köln, voller junger Menschen, musste es doch auch andere Beispiele geben.

Die gibt es eigentlich auch. Es gibt Gemeinden, in denen sich eine beachtliche Anzahl Twenty-Somethings tummelten. Auch männliche… Aber wäre es so einfach gewesen, wäre dieser Artikel hier zu Ende. Ist er aber nicht, weil einfach manchmal auch einfach einfach ist. Ich lege gar nicht sooo viel Wert auf die Predigt und bin es auch gewohnt, progressiver zu denken als die „übliche“ Freikirche von nebenan. Das sind eigentlich keine Gründe an denen es bei mir scheitert. Inspirierende, tiefgründige und vielschichtige Predigten wären toll- jedoch das ist kein besonders bestimmendes Kriterium für mich bei der Gemeindewahl. Aber wenn das Weltbild schon sehr eindimensional ist, vieles monokausal statt komplex dargestellt wird und man von irgendwas den Eindruck vermittelt bekommt, das sei auch schon immer dort so gewesen, dann zieht mich das nicht an. Auch wenn ich vielleicht mit vielen Menschen meines Alters dort Kontakt haben könnte.

Ich fand dann zu einer recht kleinen Gemeinde. Mit Freunden war ich mir einig, dass für uns dort das Wichtige war, was nach den Gottesdiensten geschah: die Begegnung mit den unterschiedlichsten Menschen. Also echte Begegnung- nicht bloß Smalltalk. Auch wenn die Gottesdienste eher wenig ansprechend waren und gefühlt alles auf junge Familien zugeschnitten und von diesen maßgeblich bestimmt wurde, so war das „die Gemeinde meiner Wahl“.
Für einen Zeitraum.
Weil irgendwann war ich auch öfters wieder der einzige männliche Mit-Zwanziger, zumindest der einzige Unverheiratete. Es gibt schlimmeres als unter Frauen des gleichen Alters zu sein, aber gleich und gleich gesellt sich halt manchmal auch gerne. Das war vielleicht der erste Knacks. Der zweite kam, als irgendwann die Gottesdienst-Lokalität gewechselt wurde. Weg von einer coolen, gut angebundenen Jazz-Konzert-Location hin zu einer schlecht erreichbaren (wenn man kein Auto hat) Räumlichkeit in einem alten Gebäude im gefühlten Windschatten der Stadt. „Die Kinder hatten keinen Raum“ und man musste mit ihnen eine Straße weiter…
Als urbaner, junger Mensch geht es mir, ich gebe es gerne zu, um gute Erreichbarkeit. Ich bin lauffaul: wenn ich schon 15 min Straßenbahn fahre, dann möchte ich nicht auch noch einmal dieselbe Zeit laufen müssen. Und ich will nach dem Gottesdienst vielleicht noch weiter in ein Café oder Restaurant- und nicht erst noch recherchieren müssen, ob es das in der Umgebung gibt.

Nun bin ich also auch so einer der verschwundenen Mit-Zwanziger geworden: Zugezogen, interessiert, aber nicht fündig geworden. Nicht andocken gekonnt bzw. vor allem gewollt. Ich schlafe Sonntags nun zumeist aus oder frühstücke mit Freunden. Der ‚Presseclub‘ um 12 Uhr ist meine einzige Konstante am Sonntagvormittag. Will ich geistigen Input oder meine Dosis Sakrales, gehe ich in den Gottesdienst der Landeskirche bei der ich im Kirchenbuch stehe, oder an einen Ort, an dem ich Spiritualität persönlich für mich selber verorte: z.B. das Rheinufer, der Dom oder der Kirchenraum meines Arbeitgebers.

Statistisch müsste es eigentlich echt viele von uns geben. Erst recht in Köln. Wie kommt es, dass wir nirgends hängen bleiben? Wobei wir es doch wollen?

Liegt es an unserer Generation, die mit immer neuen Wort-Anhängseln beschrieben wird? Die Generation Web2.0, Generation Krise, Generation Y, Generation Man-sollte-mal, Generation Schmerzensmann, Generation Maybe. Können wir uns nicht gemeindlich binden, wenn es nicht die Gemeinde ist, in der wir aufgewachsen sind? Sind wir generell zu unverbindlich? Vom Überangebot abgestumpft? Oder ist unser Lebensraum, soziales Gefüge und Sinnsuche durch die digitale Welt verlagert? Von dem allem bestimmt ein wenig zu bestimmten Teilen. Vor allem würde ich aber zwei andere Antworten geben: Sinus und Chancen.

Ich stelle immer wieder fest: die Menschen meines Alters, die sich in den mir bekannten Gemeinden tummeln, haben zumeist nicht nur eine andere Biografie, sondern auch einen anderen Musikgeschmack, andere Interessen und andere Gesprächsthemen. Manchmal ist das Y-Chromosom und der fehlende Ring am Finger schon ein Alleinstellungsmerkmal- im Alltag ist die Situation genau umgekehrt. Und tatsächlich: Menschen, mit denen ich mehr Schnittmenge habe, (nicht nur von meinen sozialen Daten) sind eher ausserhalb von Gemeinden zu finden. Wie kann das sein? Ich finde hier das Wort Kultur wichtig. Weil jede Gemeinde hat eine eigene Kultur. Da ich den freikirchlichen Raum erst mit 19 Jahren kennen lernte, stellte ich als ‚Systemfremder‘ dies sehr schnell fest. Zuerst an der Art zu beten, zu reden, mit der Bibel umzugehen, dem Musikgenre und der -auswahl. Später auch an den Interessensschwerpunkten, Gesprächsthemen, Werten.

Und irgendwann lernte ich das Bauch-Gefühl soziologisch zu belegen: Milieus. Enteilung der Bevölkerung nach Bildungsgrad und (Einkommens-)Schichtzugehörigkeit in Verbindung mit individuellen Werten, Interessen und Lebensstilen. Es ist zugleich erschreckend und lustig, eine teilweise haargenau zutreffende Beschreibung seiner selbst zu lesen. Aber auch eine Beschreibung „der anderen“ zu finden, die sich in Gemeinden tummeln- sowohl derer, die in meinem Alter sind, als auch derer, die das Gemeinde-Klima bestimmen. Laut dem Sinus-Institut gibt es in Deutschland unter Erwachsenen 10 unterschiedliche Milieus– lediglich 3-4 werden von (Kirchen)Gemeinden erreicht. Bei Jugendlichen und Jungen Erwachsenen ist die Lage nochmal unterschiedlich, die Tendenz jedoch bleibt: nur wenige ‚Typen‘ versammeln sich üblicherweise in Gemeinden. Der Rest merkt, dass die Kultur dort anders ist, andere Werte und Interessen das Geschehen bestimmen, fühlt sich als Fremde/r. Oder bringt zudem wie ich noch eine Skepsis gegenüber manchen ‚typischen‘ Sitten und Gebräuchen mit sich.
Wenn wir nicht andocken können oder wollen, liegt das auch daran: für uns wird Gemeinde nicht gemacht. Wir sind nicht „Zielgruppe“. Jetzt würden viele wieder bestreiten, dass es etwas wie Zielgruppenausrichtung in Gemeinden gäbe, aber danach wieder Termine, Inhalte, Schwerpunkte, Lieder, Musikstile, etc. nach eigenem Gutdünken auswählen. Den Verantwortlichen der beiden Volkskirchen ist das schon länger bewusst und es gibt bereits sehr sehr gutes Material, welches die Milieus auf ihre Vorstellungen von Kirche abklopft und Möglichkeiten der Gestaltung aufzeigt. Bisher tut sich in diesem Bereich der Gemeindelandschaft jedoch leider auch wenig.

Ironischerweise würde ich die Lage aber auch gleichzeitig so einschätzen: hätte sich ein Pfarrer oder Pastor echt um uns bemüht; uns Chancen gegeben, Dinge anders zu machen, uns auszuprobieren- ich wüsste einige Personen, die sich zu diesen Gemeinden verorten würden. Aber ich wurde nie mit anderen, die „so sind wie ich“, eingeladen, uns wurde nie die Möglichkeit eröffnet Sachen von uns für uns zu entwickeln. Wir dürfen uns immer nur dazugesellen, anpassen und im besten Fall mitarbeiten. Aber mitsprechen? Auch mal Dinge anders machen? Frei nach Einstein: Probleme werden nicht mit der selben Denkweise gelöst, mit der sie entstanden sind. Will man uns ‚fehlende Generation‘ wiedergewinnen oder uns Haftungspunkte geben, geht das nicht mit dem Angebot von bisher, welches scheinbar nicht wirkt (…für uns! Für andere schon!). Ja, wenn wir statt dem 10 Uhr Gottesdienst bspw. ein „gottesdienstähnliches Mittagessen“ gestalten würden, würden wir wahrscheinlich nicht zur morgendlichen Veranstaltung kommen, das stimmt. Aber wir würden wenigstens kommen…

Eine Studie ging einmal der Gefühlslage der Generation zwischen 19-29 nach. In der Zusammenfassung besagter Studie steht Folgendes:

Neben der hohen Mitarbeit und dem Bedarf Probleme offen zu diskutieren, suchen junge Erwachsene vermehrt die Mitsprache innerhalb der Gemeinde. Im Vorfeld hat sich gezeigt, dass Mitbestimmung in der eigenen Gemeinde sehr wichtig für jE ist. Dazu gehört auch, dass jE die Möglichkeit haben, eigene Ideen in Gemeinden umzusetzen. Diese Möglichkeit wird wahrgenommen, wenn jE wissen, dass ihre Kritik/Meinung von der Gemeindeleitung ernst genommen wird und sie somit auch als Teil der Gemeinde gesehen werden. Neue Ideen werden eher umgesetzt, wenn jE sich in der Gemeinde wohl fühlen. Quelle

Also liebe Pfarrer und Pastoren: schnappt euch die Gemeinde-Touristen, ladet sie ein, esst mit ihnen, hört ihnen zu, gebt ihnen eine Plattform, eine Bühne. Lasst sie kreativ werden. Und vielleicht dürft ihr beim nächsten Willow-Kongress vorstellen, wie ihr es geschafft habt, relevant zu werden für Twenty-Somethings! 😉
Weil: Uns gibt es! Wir sind zumeist sogar noch darüberhinaus interessiert und willig! Aber wir wollen auch ernstgenommen werden, auch einen Raum für uns haben, anders sein dürfen… Gemeinde ist uns nicht egal, aber sie macht sich leider allzu oft selber für uns egal.

Kommentare
  1. Rolf sagt:

    Gut gebrüllt, Löwe 🙂 Wobei aus meiner Sicht noch eine Sache dazu kommt, nämlich der Mut, sich als etablierte Gemeinde von eben diesen Twentysomethings hinterfragen zu lassen. Jugendliche ihr Ding machen zu lassen ist für die meisten Gemeinden und Alt-Herren-Leitungsgremien nicht so schwierig – denn die sind irgendwie ein Haufen für sich, bringen etwas pep rein, aber werden der Gesamtgemeinde nicht „gefährlich“. Junge Erwachsene von heute hingegen denken neu, sind aber (oder wären, wenn sie da wären) gleichzeitig ernstzunehmende Mitglieder der Gemeinde. Wenn sie etwas verändern, dann betrifft das jeden dort. Das Gemeindeleben, die Theologie, die Vision, die Angebote. Die jungen Erwachsenen also einfach mal machen lassen, wie man Teenies machen lässt, erfordert Mut. Twentysomethings lassen sich auch nicht in ein Parallelprogramm drängen – wenn sie eine Vision haben, dann für die ganze Gemeinde. Und das hat Folgen. Dazu braucht es Mut.

  2. philmertens sagt:

    Ich finde mich in sehr vielen Passagen Deines Artikels wieder. Vom Ergbenis her sind wir sehr ähnlich: Aktuell gehöre ich offiziell “nur“ der Volkskirche an, lebe aber mein Christsein zusammen mit meiner Frau im Wesentlichen privat – und doch ganz öffentlich (seit dem Verlassen der letzten Gemeinde haben wir mehr Zeit denn je für Menschen – solche, die uns akut brauchen oder solche, mit denen wir einfach Gemeinschaft haben).

    Allerdings muss ich auch im gleichen Atemzug bezeugen, dass ich schon in immerhin zwei Gemeinden ein Stückweit von dem erlebt habe, wonach Du suchst (dass der Generation Twenty zugehört wird): Beide Gemeinden wurden von ebendieser Generation gegründet und bau(t)en auf den Schultern dieser Generation. Leider gibt es die eine Gemeinde nicht mehr, nachdem zuviele Leitungstypen aus unterschiedlichsten Gründen wegzogen (klarer Nachteil dieser Generation – Flügge Sein); die andere Gemeinde verfolgt nach wie vor diese Richtung, wächst auch und ist sich der von Dir benannten Statistiken durchaus bewusst. Es gibt sie also theoretisch, die Gemeinden, die jungen Erwachsenen Raum geben. Aber wie Du richtig beobachtest hast, ist der Kinderzuwachs in solchen Gemeinden enorm, was eben zu Herausforderungen hinsichtlich der Räume führt. Und dann landet man womöglich etwas außerhalb (wobei diese Gemeinde das noch recht elegant gelöst hat).

    Gleichzeitig muss ich Rolf beipflichten in der Sache mit der Einflussnahme der jungen Erwachsenen. Gerade deshalb scheint es für viele Gemeinden so schwierig, sich neu zu orientieren und umzudenken, weil eben mehrere Generationen aufeinanderprallen. Und selbst in diesen Gemeinden, die von jungen Erwachsenen gegründet werden, findet man dieses Problem, dass einige doch nach wie vor sehr traditionell geprägt sind, während andere aus der absolut postmodernen Kultur kommen und ganz andere Wege gehen wollen. Das kann (und in unserem Fall ist) zur Zerreissprobe führen.

    Schon mal darüber nachgedacht, mit Gleichgesinnten einfach so etwas wie eine Art Hauskreis oder so zu starten, z.B. am Rhein, im Pub oder wo auch immer. In einer kleinen Gruppe hat man noch viel mehr Möglichkeiten, spirituelle Abenteuer auszuprobieren. Kann ich nur zu ermutigen. Viele Erfolg in jedem Fall und gutes Durchhalten!

    • timski sagt:

      Zuerst einmal: danke für eure Kommentare. Finde eine Diskussion unter dem Artikel wesentlich sinnvoller als bei Facebook- wo wir ja nicht befreundet sind. So haben alle was davon und gerade eure Statements finde ich wichtig!

      Ich finde es cool zu hören, dass es wohl geglückte Experimente in dieser Richtung gegeben hat (geglückt im Sinne von: lief mal 🙂 ) und würde gerne mehr dazu erfahren. Gibt es ne Homepage oder ähnliches?

      Gegen das Kinderkriegen und das generelle synchron-altern der Gemeinden ist ja auch rein gar nichts einzuwenden. Dann wäre es nur an der Rolle für eine neue Gemeinde in die Fussstapfen zu treten. Es ist einfach schade, wenn eine ganze Generation kaum Anbindung findet.
      Generell würde ich aber noch mal unterscheiden zwischen Familien und Ehepaaren. Zum Beispiel an Gemeindefreizeiten merkt man es stark, wenn es unklar ist, ob man nicht als Single ein Einzelzimmer wählen muss, weil keine gleichgeschlechtlichen Mehrfachzimmer zustande kommen, da nur Ehepaare und Familien mitfahren. Hier können auch christliche Paare ohne Kinder eine Kultur prägen, die Menschen sich fremd fühlen lässt, die einen anderen Lebensstil haben. Dass zieht sich halt durch diverse Kleinigkeiten und ist nicht nur ein Nachwuchs-/ Vorstadtreihenendhaus-Problem.(„Kannst du mal ein Bild von uns 6 machen?“ 🙂 )

      Vor allem Rolfs Kommentar fand ich hier sehr bereichernd und mir fiel auf, dass mit den ‚Jungen Erwachsenen Kreisen‘ ja eben genau versucht wird, einen Kompartimenten-Raum zu bieten, wo einmal die Woche oder einmal im Monat JE wie der Teenkreis ihr jungsein leben dürfen. Aber die Identität der Gemeinde wird dadurch nicht geprägt, es ist kein wichtiger Teil der Gemeindekultur.(man stelle sich mal vor, beim KiGo würde etwas nicht so gut laufen wie es bei der JE-Arbeit der Fall ist, was dann für ein Tammtamm wäre um dies zu ändern…).

      Und ja, an ein paar Ansätzen denke ich gerade konkreter mit anderen herum, 1-2 Sachen sind kurz vor dem Entstehen. Das fand ich jedoch (noch) nicht erwähnenswert 🙂 Es sollte in diesem Artikel mehr um das ‚Lebensgefühl‘ und die Problematik gehen, weil diese leider häufig in der Gemeindepolitik noch hinter der Parkplatzfrage rangiert und ein wenig Stiefmütterlich behandelt wird.

      • philmertens sagt:

        Ich wollte eigentlich antworten, dass ich das mit dem Lebensgefühl verstehe. Allerdings musste ich mich gerade mal selbst hinterfragen, ob ich das tatsächlich tue. Vor Jahren, als ich noch in meiner alten Heimat lebte, war ich einige Zeit auf Gemeindesuche und habe womöglich ähnliches erlebt wie das, was Du mit der Problematik des Lebensgefühls beschreibst. Ich habe dann glücklicherweise den Weg in die Epic Church in Münster gefunden (die es mittlerweile nicht mehr gibt); seitdem war das Problem von Inkompatibilität des Lebensgefühls weniger mein Problem, da wir auch hier in Mainz eine passende Gemeinde fanden.

        Aber es ist wohl in den meisten Fällen so, wie Rolf es sagt, dass über zusätzliche Teen-Aktivitäten versucht wird, dieser jüngeren Generation irgend etwas zu bieten. Aber über kurz oder lang verläuft das entweder im Sande oder man hat zwei Kirchen. Zumindest so in etwa ist das mein Eindruck von zahlreichen Kirchen, die ich in nah und fern beobachte. Ist also wirklich ein riesiges Problem.

  3. Chris sagt:

    Meines Erachtens verkehrt der hier dargestellte Angang um ein mögliches Problematisieren des Wegbleibens sog. Twenty Somethings aus gesellschaftlichen Institutionen in mehrfacher Hinsicht grundlegende gesellschaftswissenschaftliche Perspektiven und ist in seinen Schlussfolgerungen aufgrund seiner fragwürdigen deduktiven Prämissen m. E. letztlich gar irreführend. Denn möchte man eine spezielle Gruppe bezüglich einer speziellen Fragestellung im gesellschaftlichen Zusammenhang verorten, sollten zuallererst die speziellen Idiome, welche diese, wahrscheinlich eh schon schwer herstellbaren, Gruppe, skizziert werden.

    Unter dem Stichwort der Integration sollte bei angesprochener Gruppe so beispielsweise ersteinmal herausgestellt werden, dass wir es hier mit einer Lebensphase zu tun haben, welche eben oftmals gerade durch mehr oder wenigiger bewusstes sich (noch) nicht integrieren wollen bis hin zu experimentieren gekennzeichet ist. Ich verweise an dieser Stelle einmal auf den Diskurs um Adoleszenz und Jugendphase, welche gemeinhin eine vor-familiär durch relative Ungebundenheit geprägte Lebenslage beschreibt, die in westlichen Gesellschaften zudem auch die Twenty-Somethings in der Regel mit einschließt. Ein in dieser Diskussion als wesentlich zu beschreibendes Merkmal dieser Gruppe wäre zudem die starke Bezogenheit auf die eben eigene Peer Group. Soll praktisch heißen: Twenty Somethings vernetzen sich primär im Rahmen ihrer eigenen speziellen Gruppen, wohingegen „ältere Semester“ hier weitaus flexibler agieren, weshalb hier auch in der Regel nicht mehr von Peer Groups gesprochen wir. Soziale Kommunikation und Integration wird bei Erwachsenen so viel weniger an Altersgruppe und Lebenslage, sondern vielmehr an anderen Determinaten, wie beispielsweise der von Wertekorrelationen festgemacht, weshalb hier auch deutlich heterogenere Beziehungsgeflechte möglich sind. Dies weiter auszuführen würde hier jetzt allerdings den Rahmen sprengen.

    Was passiert nun wenn ein Twenty Something in eine kleine 50 Mann Gemeinde kommt. Er wird ersteinmal damit konfrontiert, dass er relativ alleine darsteht, was sich einfac daraus ergibt, das es sich bei seiner Gruppe um eine gesamtgesellschaftlich gesehen äusserst kleine Gruppe handelt. Bildet eine kleine Gemeinde mit 50 Erwachsenen bestenfalls ein korrelativ ausgewogens Bild der gesamtgesellschaftlichen Realität ab, trifft dieser Mensch hier im besten Fall vielleicht auf ein zwei Personen, die seine Lebenrealität teilen. Verschränkt man dieser Realität nun einmal mit dem Merkmal der starken Bezogenheit auf die eigene Peer Group, ist die Folge dieses Erfahrens sicherlich nicht all zu schwer abzusehen, nicht zuletzt auch, wenn wir hier unter dem Stichwort Individualisierung mit berücksichtigen, dass kaum noch gesellschaftliche Integrationszwänge bestehen, die einen jungen Menschen dazu zwingen sich eben in solche, heterogene Gruppen zu aus Konvention heraus integrieren. Also was wird passieren: Die Twenty Somethings werden folgerichtig aus Gemeinden verschwinden um sich andererorts Peer Group zentrierter zu vernetzen und zusammenzufinden, was sich dann beispielsweise auch in Bewegungen wie den Jesus Freaks oder auch christlichen Home Circles, also Gemeindeunabhängiger Hauskreisarbeit realisiert. Beides Formationen übrigens mit denen auch ich mir meine eigene Twenty Somethings Lebensphase versüßt habe.

    Ein zweiter Aspekt den ich gerne ansprechen würde, und dies ist dann auch, jenseits einer gesellschaftswissenschaftlichen Erörterung, mein eigenes Statement zum Thema: Gemeinde ist kein Kulturverein. Gemeinde, und dies ist meine persönliche Ansicht, ist vielmehr eine spezielle gesellschaftliche Formation, welche nicht zuletzt aus theologisch bzw. religiösen Motiven gespeist und determiniert wird. Gemeinde, so mein Verständnis, ist in erster Linie vielleicht als eine Art Verantwortungsgemeinschaft zu beschreiben, die aus einem biblischen Verständnis heraus, was sicherlich diskutierbar ist, eine spezielle, im weiteren Sinne dennoch auch gesellschaftliche Funktion ausfüllen will und m. E. auch sollte. Diese realisiert sich in erster Linie im sog. Liebesdienst, der sich einmal im Dienst untereinander, also der bewusster Verantwortung füreinander, sowie, m. E. noch weitaus wichtiger, im Dienst am Anderen, also dem Dienst am Nächsten. Noch deutlicher: Gemeinde ist kein Selbstbespaßungs-, Wohlfühl- oder Kulturverein, Gemeinde hat eine klare Ausrichtung und gesellschaftliche Aufgabe, die sich, will man es einmal scharf und evangelikal formulieren, aus der Nachfolge Jesu ergibt. An dieser Stelle muss natürlich eingewandt werden, dass sich Gemeinde real oftmals weit jenseits solcher Maßstäbe bewegt, was in diesem Block an anderer Stelle ja auch bereits kritisch diskutiert wurde. Eine Diskussion um die gesellschaftlich relevante Gemeinde sollte m. E. so auch eher in solchem Rahmen abgehalten werden und ist m. E. anschlüssig an das hier angebrachte Thema eher unangebracht.
    Den Begriff von Gemeinde in diesem Zusammenhang zu diskutieren ist hingegen daher wichtig, als das einem klar sein sollte, dass Gemeinde immer auch die Aufforderung zum Eintreten in Verantwortung zur Folge hat. Etwas das, meine vorangegangene Argumentation resümierend, im Rahmen der adoleszenter Lebensphasen der Lebensrealität der Twenty Somethings eher entgegen läuft und sich als Wert, aber auch als Bedürfnis meist erst im Rahmen sich festigender Bindungen in Form von Familie und/oder Beziehung, sowie sich stabilisierender Biografie einstellt.

    Eine dritte Kritik die ich an dieser Stelle noch anbringen möchte ist eine methodische: Milieus sind keine Kategorien zur Darstellung von Gesellschaft, sie bilden Gesellschaft nicht ab, können somit auch nicht als deduktives Mittel eingesetzt werden. Milieus als Instrument sind ausschließlich induktive Kategorien, welche Daten nach Prämissen ordnen können, jedoch in ihrer Herausbildung zum einen immer an ihre Daten, zum anderen an die jeweiligen speziellen Prämissen der Datenreduktion gebunden sind – also an spezielle Fragestellungen. Die FES Milieus ergeben sich also rein auf Basis der Frage nach politischer Teilhabe. Die Sinus Milieus primär im Rahmen materieller, bzw. ursprünglich auf den Konsumenten ausgerichteten Diskussionen. Eine Verwendung von Mileus als Mittel zur Gesellschaftabbildung, und im Weiteren als deduktives Mittel zur Herausbildung von Thesen, die an der Herleitung der Kategorien gar keinen Anteil hatten, ist wissenschaftlich gesehen keine ordentliche Methode. Milieus als reale Dimension gibt es einfach nicht. Es sind Konstrukte, die nach Fragestellung Daten sortieren, weder aber in sich homogen und konsistent sind, noch tatsächlich soziale oder mentale Situationen von Menschen, aber auch gesellschaftlichen Gruppen kategorisch beschreiben können. Kein Mensch gehört nur einem Milieu an, sondern findet sich je nach Fragestellung in ganz unterschiedlichen Milieus wieder. Der Milieu eigenet sich somit auch nicht zur Beschreibung von Gemeindezusammensetzungen und/oder Gemeindezielgruppen. Um hier mit einem Begriff von Milieus arbeiten zu können, müsste man ersteinmal auf Basis eigens gesammelter empirischer Daten spezielle an der Fragestellung angelehnte Milieus herausarbeiten. Ein Abgleich mit anderen Milieustudien wäre auch nur durch einen differenzierten Abgleich der entsprechenden Datenlage möglich. Dies nur nochmal zum Umgang mit dem Begriff der Milieus.

    Nochmals kurz zusammengefasst: Das Fernbleiben von sog. Twenty Something erklärt sich m. E. in erster Linie aus der speziellen Lebensphase. Denn, es ist zuallererst eine sehr kleine Gruppe, zweitens eine, der es schwerer fällt sich in eher heterogene, umfassendere (Mehrgenerationen-) Gefüge einzubinden. Dies führt so zu Kummulation an gesonderten Orten. Drittens handelt es sich um eine Gruppe die sich weniger als Wertegemeinschaft, sondern vielmehr als Lebenslagengemeinschaft formiert, was dem Grundakt von Gemeinde als spezielle werteorientierte gesellschaftliche Formation oftmals zuwiderläuft.

    Ich möchte an dieser Stelle noch anfügen, dass dies hier eine pragmatische, also keine wertende Auseinandersetzung mit dem Thema sein soll, ich also weder Twenty Somethings, noch Individualisierung hier im negativen Sinne kritisieren will. Die Jugendphase ist einerseits umständlich gebunden, andererseits aber auch als notwendig zu beschreiben. Die Individualisierung empfinde ich zudem als eine der großen Errungenschaften der westlichen Welt, wenngleich jede Errungenschaft natürlich auch immer zu problematisierende Momente enthält.

    Was machen wir nun wegen des Wegbleibens der Twenty Somethings aus der traditionellen Durchschnittsgemeinde. Meines Erachtens am besten keine Panik verbreiten. Es handelt sich hier um einen völlig normalen, m. E. letztlich auch eigentlich nicht problematischen Vorgang. M. E. ist dieser ehrlich gesagt auch nicht zu lösen, da einfach strukturell und der Individualisierung geschuldet. Die Antwort hierauf sind eigentlich bereits gegeben, nämlich spezielle Studentengemeinden, Jesus Freaks, Haustreffen… Vielleicht kann auch die ein oder andere eher größere Freikirche, die Landeskirchen, eben jene Gemeinschaften, in denen sich einfach aufgrund der größe bereits wieder mehr Twenty Somethings integriert fühlen das Thema im Rahmen von Jugendreferendarien stärker fokussieren. Die durchschnittliche kleine Freikirche ist hier sicher aber die falsche Adresse der Anklage, denn sie hat hier eigentlich keinen Aktionsspielraum. Problematisch ist dies m. E. jedoch nich, denn den Wachstumskern von jungen Gemeinden, sind sie jetzt eben keine speziellen Studentengemeinden, machen in der Regel die Middreißiger aus, also eben jene Gruppe, die anschließend an ihre jugendliche Bastelphase ihren Re-Entry auch in ganztheitlichere gesellschaftliche Formationen finden. Fast alle GründungsTwenties der Jesus Freaks Hamburg sind mittlerweile an anderer Stelle gemeindlich aktiv. Leiter von Vineyardgemeinden, der Anskar Kirche u.s.w. Twenty Something ist man glücklicherweise nicht sein ganzen Leben. Man ist ja auch nicht sein ganzes Leben überzeugter Single, radikaler Sozialist oder provokanter Jesus Freak. Das wäre ja auch schrecklich.

    • timski sagt:

      Ich glaube, dein Kommentar hat mehr Zeichen als mein ganzer Artikel 😀 Aber danke für diese bereichernden Zeilen!
      Auch wenn dein Niveau es sehr schwierig macht eine Antwort zu finden, hätte ich ein paar plumpe Rückfragen und bin gespannt auf die Horizonts-Erweiterung:

      Wir beide landen bei demselben Punkt: Twentysomething WOLLEN nicht bei dem, was landläufig gegeben ist, andocken. (im Artikel: „Nicht andocken gekonnt bzw. vor allem gewollt.“). Und ich stimme dir zu, dass da viel die Peer-Group-Orientierung zugehört. Das ‚Lebensstil‘-Argument will ich aber nicht unter den Tisch fallen lassen, obwohl man hier noch einmal innerhalb der behandelten Gruppe unterscheiden müsste zw. „in Ausbildung/Studium“ und „berufstätig“, weil dies meines Erachtens nach noch einmal einen anderen Lebensstil mit sich bringt und die Erfahrung von Verantwortung und ökonomischer Selbstständigkeit einen starken Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung besitzen. Sinus wählt hier das Alter um 27 Jahre um diesen Bruch zu markieren und verortet die „jungen Milieus“ davor, danach die Erwachsenen. Ich würde als veranschaulichenden Brennpunkt unterschiedlicher Lebensstile die Diskussion um die Gottesdienstzeiten anführen. Die klassische 10-Uhr-Zeit kommt Familien sehr entgegen, Studis, junge Erwachsenen und Kinderlose Paare jedoch fänden 12 Uhr in den meisten Fällen besser, was aber wiederum für Familien mit kleinen Kindern eine ganz doofe Zeit ist. Als Kompromiss feiert man dann oftmals einmal im Monat einen „Gottesdienst für Ausgeschlafene“ um 11 Uhr und verpasst diesem ein „missionarisches Profil“. In einer deutschlandweit bekannten Gemeinde aus Marburg hat das einen anderen Auswuchs beschert: der 10 Uhr Gottesdienst wird um 12 Uhr wiederholt- das Durchschnittsalter ist jedoch komplett unterschiedlich und so leben zwei Gruppen in der Gemeinde nebeneinander her. Die Parallel-Struktur wird dort auch an manch anderen Punkten offensichtlich, wo es für die „ausgehwütigen“ Twenty-Somethings spezielle Angebote gibt, die weniger von Verheirateten und erst recht fast gar nicht von Eltern in Anspruch genommen werden. Unter einem Gemeindedach finden zwei Gruppen zusammen: die jungen Erwachsenen in deren verschiedenen Abschnitten und die „Etablierten“, Sesshaftgewordenen. Aber beides eben parallel.
      Ich würde bei diesen Lebensstil-Komplex mehrere Trennlinien anführen: „studierend- berufstätig“ ,“Kinder- Kinderlos“, „Alleinstehend- mit dem Partner zusammenwohnend“, „Single- vergeben“, und noch ein paar mehr. Nun kann man sagen, dass dies eben eine lebensphasenspezifische Peer-Group-Orientierung ist, wenn Twentysomethings oftmals fernbleiben. Gleichzeitig sind uns beiden ja aber auch mehrere Ehepaare in den Zwanzigern bekannt, die sich Gemeinden angeschlossen haben, aber kaum Alleinerziehende in ihren Dreißigern. Wer, wenn nicht Alleinerziehende, sind an stabilen Lebensverhältnissen interessiert und leben verbindliche Beziehungen? Was ja dein angeführtes Kriterium zugunsten einer Lebensphasen-Argumentation war… (Das ist eine subjektive Beobachtung, ich weiß. Zur Vergewisserung habe ich einen alleinerziehenden Freund in den Dreißigern gefragt, wievielen anderen Alleinerziehenden er begegnet in den lokalen Gemeinden- er bestätigte meinen Eindruck.). Meine These ist hier: unterschiedliche Lebensstile klumpen auch gerne zusammen. Die sozial engen Bezugspersonen mag man in Partner und Familie haben, aber die Kompatibilität von Päärchen zu Päärchen, Zusammenlebende zu Zusammenlebenden, Familien mit kleinen Kindern zu Familien mit kleinen Kindern ist einfach ausgeprägter als bspw. Familien mit Kleinkindern zu unverheirateten Studis. In einer uns beiden vertrauten Gemeinde tummeln sich ja auch vor allem Eltern von Familien mit Kindern im maximal Grundschulalter, aber kaum Eltern von Pre-Teens oder Teenies. Dann folgen wieder Ehepaare mit mehr oder weniger erwachsenen Kindern. Auch wenn dies nicht repräsentativ sein mag, stützt es doch meine These von zusammenstrebenden Lebensstilen- ist zwar keine peer-group mehr im strengsten Sinne, aber schon eine Interessensgemeinschaft. Wie gesagt, Alleinerziehende in den Dreißigern fehlen auch oftmals in Gemeinden (auch Alleinerziehende in den Zwanzigern)- ich glaube nicht, dass nur eine unverbindlich-freie Lebensphase für das aktive Fernbleiben der Twentysomething verantwortlich ist. Um den Bogen wieder zu schlagen: gerade Alleinerziehende finde ich würden bestens in den Fokus von Gemeinden passen. Wer kann Menschen mit Kindern besser helfen als Menschen mit Kindern? Hier liegt ein weites diakonisches Feld in dem die familienreichen Gemeinden sich eigentlich wie Fische im Wasser bewegen könnten. In meiner Einschätzung jedoch ist hier die Lebensstil-Differenz zwischen einer bürgerlichen Vorstadt-Familie zu alleinerziehendes Großstadtelter ein Hinderniss- welches aber leicht abzubauen ist. (und tatsächlich kenne ich eine Gemeinde, die sich nun stärker den Bedürfnissen von Alleinerziehenden widmet. Wie sich das entwickelt wird spannend zu beobachten sein!

      Also: Peer-Group-Orientirung und generelle lebensphasenspezifische Unverbindlichkeit mögen auch Teilaspekte sein. In meiner Sicht aber auch verschiedene Lebensstile. Gleich und gleich gesellt sich nicht nur gern bis zum Zusammenzug, sondern auch danach. „Gleich“ wird nur ein weitläufigeres Feld…. Meine Meinung….

      Aber hier ein paar Rückfragen an den Lebensphasen-Ansatz: wie kommt es dann, dass vor allem Männer in den Zwanzigern stärker fehlen als Frauen gleichen Lebensabschnitt? Ist dies eine flächendeckende Kummulation des „Hier gibts ja kaum jemanden wie mich“, nur dass Frauen in den 20ern mehr Sitzfleisch haben? Sind Männer und Frauen eine andere Peer-Group? Docken Frauen vielleicht Peer-Group-übergreifender an und sind demnach andockfähiger?

      zu den Milieus: gegen wissenschaftliche Unsauberkeit ist schwierig zu argumentieren. Ganz klar, die Sinus-Milieus sind alles andere als der Weisheit letzter Schluss. Und ich habe auch meine Probleme mit der Neuauflage 2010f . Aber heißt das dann, dass sie Phänomene näherungsweise nicht trotzdem ganz gut beschreiben können? Haben Institutionen wie die Deutsche Bischofskonferenz viele Tausend Euros verpulvert, sind Scharlatarnie aufgesessen und wir können die vielen Bücher und Untersuchungen über das Thema Milieu-Reichweite von Gemeinden eigentlich auch in die Tonne kloppen?

      Zum Kulturverein-Gemeinde: eine Zweck-geleitete („Theologisch determinierte“) Gemeinde wäre schön, auch wenn die „purpose driven Church“ mir etwas zu kurz greift und zu sehr aus einer Management-Denkweise entstammt. Gemeinde, die ihre Identität aus der Missio Dei, der Nachfolge oder sonstigem ableitet wäre schön und ein großer Fortschritt- aber wie ich finde auch eine Kopfgeburt mit wenig Bodenhaftung in der Praxis. Auch hier wieder subjektive Betrachtungen, die man deshalb bestimmt auch in der Luft zereissen kann: Warum ist die Zahl von (sichtbaren) Tattoos in Gemeinden kleiner als bei einem Gang durch die Innenstadt? Und warum nimmt sie bei Jesus-Freaks-Gemeinden exponential zu? 🙂 Warum sind die Autos auf Gemeindeparkplätzen häufig vom gleichen Typus und Kosten-Niveau- aber anders als die Zusammenstellung bspw. vor dem Aldi (der ja nahezu alle gesellschaftlichen Schichten erreicht)? Warum ist gefühlt die durchschnittliche Fertilitäts-Quote von Gemeindemitgliedern höher als die der deutschen Bevölkerung? Warum ist Bildungs-Niveau und -Abschluss weniger weit gestreut als es bspw. in der U-Bahn der Fall wäre? Warum gibt es gefühlt so viele Pädagogen und BWLer in Gemeinden, aber kaum Philosophen und Künstler?
      Allein schon die Belegschaft einer katholischen Kirche an einem Sonntagmorgen unterscheidet sich von der der evangelischen im gleichen Ortsteil, warum sollte das bei Freikirchen anders sein? Kirchengeschichtliche Wendepunkte wie die unterschiedlichen Antworten auf die soziale Frage im 19. Jahrhundert, der Kulturprotestantismus und und und haben zu einer Schlagseite beider „Volkskirchen“ geführt. Der Protestantismus als Kind der Aufklärung mit seinem Bildungsgedanken erreicht ganz andere Menschen als der katholische Gottesdienst, in dem die Predigt auf sieben Minuten beschränkt ist. Das ist ja auch ganz verständlich und völlig wertungsneutral. Wer ist in der Lage einer Predigt von 30 Minuten oder länger zu folgen? Menschen, die es gewohnt sind, lange Vorträge wahrzunehmen. Und die meist kürzeren, aber wesentlich anspruchsvolleren Predigten in der Landeskirche muss man auch erstmal kognitiv aufnehmen können, auch wenn es „nur“ maximal 20 Minuten sein sollen. Eine „Spezialisierung“ ist das logische Produkt, wenn man einen eigenen Schwerpunkt besitzt. Und um so weiter man dies pflegt, umso mehr bildet sich auch eine Struktur/Kultur heraus mit selbsterhaltendem Anliegen. Das ist ja auch per se nicht schlecht. Wenn dies aber flächendeckend geschieht und ganze gesellschaftliche Schichten nicht mehr „ihre Kirche“ finden können- werden wir (die Volkskirchen, die Christen) nicht mehr unserem Auftrag zum Einklinken in Gottes Handeln gerecht. Wie gesagt, die deutsche Bischofskonferenz hat viel bei Sinus in Auftrag gegeben und das Material hat einige tausende Augen geöffnet. In der Pfarrer-Ausbildung gehört die Auseinandersetzung mit dem Gedanken von Milieus und Milieuspezifischer Ausrichtung sogar vielerorts mittlerweile dazu. Ich sehe viel mehr, was den Gedanken von „wir erreichen nur wenige unterschiedliche Typen“ unterstützt, als was ihn wiederlegt.

      So, mein Senf zu deinem Senf 😉 Wahrscheinlich sehen wir beide die Dinge viel zu monokausal um der komplexen Realität auch nur näherungsweise gerecht zu werden, aber das ist ja das schöne an Blogs: der Dialog und die Dialektik. Oder um es mit Rolf zu sagen „unfertige Gedanken bewegen zu dürfen“. In diesem Sinne: ich freue mich, durch deine Antwort ein paar blinde Flecken zu verlieren! 🙂

  4. Chris sagt:

    Monokausal ist hier vielleicht das Stichwort und eben auch das Problem, wenn man mit abstrakten Kategorien wie Milieus arbeiten will. Zwischen den Zeilen wird sicher auch meine generelle Haltung zur Sinus Forschung und deren Versuch einer quantitativen Gesellschaftsbeschreibung sichtbar. Quantitative Sozialforschung ist generell einfach eine schwierige Geschichte, da hier anschließende Diskurse sich oftmals in kategorischem Denken verdichtet, das an der doch deutlich diverseren, meist auch nicht kohärenten Lebensrealität letztlich scheitern müssen. Spätestens wenn man versucht Sinusmilieus auf Einzelpersonen oder kleinere Gruppe anzuwenden wird dies augenscheinlich, denn eine kongruente Zuordung gelingt hier in der Regel nicht.
    Ich denke auch generelle Definitionen einer Gruppe der „TwentySomethings“ ist ebenso kaum möglich, wenngleich ich dies natürlich nun selbst auch betrieben habe.
    Nungut. Ich glaube man muss aufpassen, dass man bei dem Diskurs den du hier aufwirfst, bzw. aufwerfen willst nicht einfach tausend völlig verschiedene Dimensionen, Determinaten und einzelne soziale Lagene in einen Topf wirft, gut umrührt und dann mit abstrakten Kategorien versucht das Ganze irgendwie gezwungen ganzheitlich zu beschreiben und zu kritisieren. M.E. sollte man sich ersteinmal die Einzelfragen vornehmen, dass heißt auch im Kern etwas qualitativer vorgehen. Ich denke so stößt man dann auch auch tragfähigere, sinnfälligere Antworten, die einem vielleicht nicht immer in den Kram passen, inter-subjektiv meist jedoch verifizierbarer sind.
    Der Single Twenty Something und der/die Alleinerziehende sind beispielsweise zwei völlig verschiedene Paar Schuhe, bzw. Fragestellung. Der/die Alleinerziehende als Gruppe so sicher auch nicht gegeben. Eben so auch Fragen von Stil und/oder Fragen der Lebenslage. Diese Themen müssten schon gesondert abgehandelt werden. Bei Gemeinden hinzu kommen eben zudem auch theologische Fragen, Fragen des speziellen geistlichen Lebens, Stile von Spiritualität… Du bist diese ja bereits selber angegangen. Ja, und meines Erachtens wäre im Rahmen deiner Erörtung auch eine an Gender Diskurse angelegte Besprechung durchaus auch hilfreich. Da dies nun aber nicht gerade mein Fachgebiet ist und ich persönlich zudem, auf Basis meiner persönlichen Biografie, ein relativ ent-gendertes Selbstverständnis lebe, halte ich mich hier dann doch lieber zurück, da andere hier sicher bessere Beiträge verfassen könnten.
    Im Kern sollte mein Beitrag einfach auch aussagen, dass die Vorstellung von Gemeinde als Solidargemeinschaft von Menschen unterschiedlichester Alters-, Lebenslagen- und Wertekonstellationen eine ausgediente, anachronistische ist. Wir leben in einer hochgradig diversifizierten Gesellschaft die zudem vom Pfand der Individualisierung geprägt ist, dass ein solcher allgemeinder Begriff von Solidarität immer stärker einer Spezialisierung unterliegt. Ich verweise hier nochmal auf mein Argument, dass jedes Individuum, dass in eine kleine 50 Mann Gemeinde geht, sich als Minderheit, als nicht integrierbar und abgehängt empfindet. Das ist der Zeitgeist, das ist die Perspektive, die wir heute leben und einnehmen. Die traditionelle freikirchliche Gemeinde ist heute nur noch eine von vielen Formen religiöser Gemeinschaft, eben eine spezielle Formation, wie bereits erwähnt. Abseits dieser bilden sich jedoch andersartige Formationen, die wiederum eben auch anderen Lebenslagen, Werteorientierungen und Altersgruppen gerecht werden. In Köln habe ich mich in der Gemeindelandschaft nicht groß umsehen können, daher kann ich hier nur auf Konzepte beispielsweise in Hamburg (Vineyard Haustreffen, Jesusfriends.de, Freaks…) oder beispielsweise die Vineyard Heidelberg, eine mit über 200 Personen überdurchschnittlich große, fast reine Studentengemeinde, verweisen. Es gäbe hier sicher noch eine Menge ähnlicher Beispiele.
    M. E. ist es einfach so, dass wir das Rad der Zeit nicht umkehren können. Wir müssen den Diskurs der Post Moderne auch in gewisser Weise ernst nehmen. Wir leben in Zeiten der Spezialisierung, diese Ansicht teile ich mit dir – doch akzeptiert man diese Tatsache, erledigt sich auch ein Problematisieren von „Gemeinde als solches“, so wie du es hier vornimmst, in gewisser Weise von selbst.
    Wichtiger hingegen ist m.E., dass es uns über die ganze Diversifizierung hinweg dennoch gelingt, einen Wert von Solidarität im weitesten Sinne zu wahren, zudem diesen auch stärker zu praktizieren. Wenn mir persönlich ein Begriff aus Milieu Studien wirklich hängen geblieben ist, dann der des „Prekariats“. Ein Begriff der in einem weiteren Sinne eben Gruppen und Vereinzelungen beschreibt, die selbst an einer spezialisierten Solidargemeinschaft möglicherweise keinen Anteil mehr haben. Und wer weiß, vielleicht läßt sich hier, vielleicht gar speziell in Deutschland, eben der/die Alleinerziehende in solcher Weise problematisieren. Den aktiven TwentySomething würde ich hingegen da nicht mit einordnen wollen, denn da fallen mit einfach zu viele Gruppen, Gemeinden und Initiativen ein, die dem widersprechen würde, auch solche aus einem nicht charismatisch geprägten Umfeld.
    Ich persönlich glaube, dass die spezielle Herausforderung von Gemeinden heute darin besteht, sich bewusst zu machen zu welchen vielleicht abgehängten Gruppen man aufgrund eigenen Potentials Beziehung bauen und so auch Verantwortung übernehmen kann. Das ist beispielsweise im Kern ja auch Johannes Reimers Anliegen, und bei aller Kritik die ich an ihm und seinem Konzept habe, an diesem Punkt hat er m. E. die Zeichen der Zeit gut erkannt und sich bemüht diesen zu begegnen.

  5. Chris sagt:

    P.S.: Als Intellektueller hat man es in Gemeinde jenseits der Protestanten natürlich generell schwerer. Da muss ich dir recht geben. Aber auch eben dies sind idiome der Individualisierung. Ich persönlich kann da meinen innerlichen Frieden dadurch halten, da ich ja auch jenseits von Gemeinde existieren. In meiner Gemeinde beispielsweise geistert ein ungeschriebenes Gesetz durch die Reihen das heißt: „Leben und leben lassen“. Nicht der Weisheits letzte Schluss, bei sehr heterogenen, offenen Gemeinden, wie eben die meine (wo neben in Brudergemeinden sozialisierten auch aktive linke Gewerkschaftler sowie völlig Kirchenfremde ihre Integration gefunden haben) jedoch nicht der schlechteste Ansatz.

  6. Steffi sagt:

    Bei meiner kurzen Internetrecherche bin ich darauf gestoßen, dass – was ich nie gedacht hätte – junge Männer sich sehr viel häufiger gesellschaftlich engagieren als junge Frauen. Lediglich im Bereich Kirche verkehrt sich dieses Verhältnis. (s. z. B. bmfsfj Genderdatenreport) Demnach ist es so, dass Frauen sich bei Geburt eines Kindes oft aus gesellschaftlichem Engagement komplett zurückziehen (meist in den Zwanzigern). Auf der anderen Seite beteiligen sich Männer gerne in Gruppen, bei denen es entweder um Wettkampf (Sport) geht, in denen es Aufstiegschancen gibt (Politik), in denen sie generell Führungspositionen übernehmen können (Vereine mit heirarchischer Struktur) oder in denen es um Geselligkeit geht (Aktivitäten mit Freunden, Spiele). Kirche bietet wohl eher Raum für soziale Dienste, die traditionell eher von Frauen übernommen werden. Hier kann ich dir eigentlich nur recht geben, dass das eigentlich nicht sein darf. Auf der anderen Seite möchte ich auch bitte nicht demnächst Poker- oder Männer-Abende in der Gemeinde haben! (Zumindest nicht solche, bei denen Frauen nicht erwünscht sind. 😉 Gemischt ist ok.)
    Zu einem zweiten Punkt: Deine Idee, die Alleinerziehenden näher in den Fokus zu rücken, habe ich auch schon seit Monaten im Kopf. Ich finde eigentlich, hier hätte man als Gemeinde das größte Potenzial, da der gesellschaftliche Bedarf riesig ist, Hilfe jedoch gerade für kinderreiche Gemeinden einfach zu bieten. Das Thema Familie/Beziehung betrifft ja fast jeden und im christlichen Rahmen gibt es hier teilweise gute Hilfen (allerdings auch nur teilweise, manche sind eher fragwürdig).

    • timski sagt:

      „Kirche bietet wohl eher Raum für soziale Dienste, die traditionell eher von Frauen übernommen werden.“… Schön wärs! (Frei)Kirche bietet zumeist doch neben den starken Dienstbereichen Musikteam und Kinderbetreuung ääh KiGo doch nur noch unbeliebte Sachen wie Technik und Aufbau/Aufräum/Kaffeekochen an. Aber ein schneller Blick auf das Besuchsdienst-Tableau einer spontan gewählten Volkskirche bestätigt in diesem sozialen Bereich deine These.
      Deine Aufzählungen der Wahrnehmung von Gruppen würde ich spontan das Prädikat „Erfahrung von Selbstwirksamkeit“ auflabeln. Das würde auch ein größeres Mosaiksteinchen sein bei dem Versuch, das Fortbleiben der Männer zu erklären (denn diese sind durchgängig seit der Pubertät weniger in Gemeinden vertreten als Frauen gleichen Alters). Kirche/Gemeinde bietet (bisher) wenig Raum, sich einzubringen (also eine Herausforderung zu erleben…Technik zählt nicht dazu 😀 ), was „zu machen“ und daheraus die eigene Wirksamkeit zu erfahren. Mir fehlt zu wenig der Einblick in „echte“ Pionier-Gemeinden, die am Anfang ihrer Entwicklung stehen, aber aus dem Bauch heraus würde ich sagen, wird dort in breiteren Teams gearbeitet, sind die Chancen und Möglichkeiten sich tatsächlich gestalterisch einzubringen größer, und dementsprechend auch die Attraktivität für (junge) Männer höher. Wobei die Führungsrollen in Gemeinden leider immer noch nach wie vor mehr als nur Antiproportional verteilt sind zugunsten der Männer.
      Zu „Testosteron-Gehegen“ wie Männerabenden habe ich eine sehr zwiegespaltene Meinung. Wenn es nicht zu gestelzt, zu aufgesetzt, zu Cowboy-Mittelalter-Abenteuer-mäßig ist kann dies als spärlich eingesetztes Mittel echt toll sein (in der uns beiden bekannten Gemeinde gab es mal einen echt netten Schlag-Den-Raab-Männerabend!).Gleichzeitig ist dies halt etwas wie die ganz oben aufgeführte Junge-Erwachsenen-Kreise, die etwas nach aussen verlagern möchten. Es wird Gründe geben, warum Gemeinden mehr und mehr verweiblichen, und wenn man diese nicht analysiert und im Generellen versucht anzugehen, hilft so ein Bespielungs-Programm für Männer auch nicht in der Tiefe, sondern ist ein schneller Flicken auf dem Riss.
      Es gibt ja parallel schon lange das „Frauen-Gebets-Frühstück“ (gruselig, welches Rollenbild da zwischen den Zeilen mitschwingt, oder?) und manche Veranstaltungen auf dem Gemeindeplan wie der Gebetskreis sind (falls kein in der Regel männlicher Hauptamtlicher zugegen ist) flächendeckend auch eher ein thematisches Frauentreffen. Programme für Männer hätten ihre strukturelle Berechtigung (werden manchmal ja auch mit dem „Kicken in der Halle“ bedient), aber ob es eine Tiefenwirkung hat/haben würde, bleibt meines Erachtens nach zu bezweifeln.

      • Steffi sagt:

        Zum Thema „Frauen-Gebetsfrühstück“ kann ich dir nur recht geben. Ich erinnere mich in dem Zusammenhang immer gerne an die Anekdote Heinrich Seuses, wie er sich den Namen Jesu auf die Brust ritzt, während er den spirituellen Frauen empfiehlt, selbigen doch eher auf Taschentücher zu sticken… Ich finde jedoch, das dasselbe eben auch für den Männer-Abend gilt, denn er hinkt der gesellschaftlichen Entwicklung ebenso hinterher. Solche „getrennten“ Veranstaltungen kenne ich nur aus Gemeinden, ebenso übrigens wie das Zimmer für Unverheiratete auf der Gemeindefreizeit. Darüber hinaus möchte ich den Begriff „verweiblichen“ hier jedoch noch mal kritisieren: Erstens schwingt da eine sehr negative Konnotation mit, zweitens ist es ja anscheinend immer so gewesen, ist also kein fortschreitender Prozess, oder? Wenn man so argumentiert, würde ja derzeit die gesamte Gesellschaft „verweiblichen“, weil Frauen stärker ins Blickfeld rücken als bisher. Was wäre denn deiner Ansicht nach eine dem gesellschaftlichen Fortschritt, was Gender-Bilder angeht, sowie der mangelnden Gleichberechtigung der Frauen ebenso wie der mangelnden Berücksichtigung von Männern entsprechende Lösung dieses Problems, die jedoch nicht überkommene Rollenbilder wieder reinstalliert?

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