Der heruntergekommene Gott

Veröffentlicht: 23. Dezember 2014 in Kirchenjahr
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Kurz nach Weihnachten:
Drei politische Flüchtlinge am Mittelmeer,
fern von Bethlehem.
Ein Mensch ist illegal,
vom nahöstlichen Despoten zum Asylsuchenden gemacht.
Ziel: klamm heimliche Einwanderung.
Stille Nacht, eilige Nacht.

Die Mutter: sehr jung, kürzer verheiratet als schwanger gewesen.
Der Vater: erklärt den Skandal mit Engeln…
Jeder denkt, sie brennen durch:
Das sittenwidrige Paar Provinzler,
dass das verbotene Kind bei den Tieren gebar,
erfahren im Umgang mit zwielichtigen Gestalten wie Schäfern und ausländischen Magiern.
Brave Maria.
Im Arm: illegal, allen egal
– der heruntergekommene Gott.

Später wird er ‚von Nazareth‘ genannt werden.
Er kommt von dort, ohne bisher dort gewesen zu sein.
Das Schicksal jeder zweiten Flüchtlings-Generation.
Geburtsort: Bethlehem
Wohnort: noch ungewiss.
Flucht ums Mittelmeer herum-
Muttersprachlich fremd aufwachsen im fremden Land.
Gastarbeiterkind, Migrationshintergrund
– der herum gekommene Gott

Ecce homo.
Es kontingiert noch keine sogenannte christliche Partei damals ihm, Christus, und seinesgleichen die Hilfe mit spitzem Bleistift.
Niemand protestiert Weihnachtslieder singend gegen Flüchtlinge wie ihn.
Auch Frontex jagt nicht zum Schutz des christlichen Abendlandes Migranten wie Paulus.
Noch macht man die Türen hoch, die Tore weit.
Gott sei Dank,
Gott dankt.

Es ist Verdruss entsprungen,
aus dem Asylanten und seiner Schicksal Art.
Flüchtig kennt ihn kaum noch jemand.
Niemand erzählt die Geschichte seiner Flucht an den ihm gewidmeten Tagen.
Seine Geschichte ist zu einer Art Folklore geworden,
ganz ohne unbequeme Fragen.
Flüchtlinge mag man nicht im christlichen Abendland,
Für den Schlaf in seliger Ruh,
bleibt er holder Knabe mit lockigem Haar.
Trotz Bekenntnis zu ihm,
dem in Not untergekommenen Gott.

Die Nacht ist vorgedrungen,
Asylanten hält man fern.
Es sei die Klag gesungen,
dem angeschwärzten Morgenstern.
Kein Migrant wird gefeiert, wenn er nicht singt oder Fussball spielt.
Damals schon ohne Glanz und
Gloria, in terra: Deo. Den Rest des Beitrags lesen »

beichtspielweise

Veröffentlicht: 19. November 2014 in Kirchenjahr, Spiritualität
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Stell dir vor, es wäre Buße und alle beten nur.
Stuhlen die Beichte, in wahrster Sühne des Ortes.
Ohne Ändern leben.
Kein wieder gut machen.
Nur wieder holen. Bei Gott.

Das Büßerhemd hat grobe Maschen, fastet sich kurz.
Tu Muße und schlendere im Streben, rät die eigene Nase nach dem Sündenkniefall.
Tu Muße und beehr dich, denn der Himmel ist dir ja schon reich nahe.
Müßiggang ist auch ein Pflaster.
Immer der Nase nach verbirgt, dass im um sich kreisen Umkehr nicht viel bringt.

Stell dir vor es wäre Buße, und jeder büßt den andern ein.
Stell dir vor es ist Buße, und alle beten nur.

// Den obigen Text habe ich mal für ein christliches Magazin getextet, wo er jedoch versandete. Ich fand ihn trotzdem zu schade für den Papierkorb. Zum heutigen Buß- und Bettag.
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Banksy’s Jesus

Von Schlüsselerlebnissen, Flaschenhälsen und befreiten Pendeln

Vor wenigen Wochen kaufte ich mir einen neuen Schlüssel-Ring und beim Übertragen der alten Schlüssel auf den neuen Bund fiel mir wieder auf, dass ich noch immer meinen Haustürschlüssel für das Haus meiner Jugendjahre bei mir trage- obwohl das Haus schon seit mehreren Jahren verkauft ist und ich es wahrscheinlich nie mehr betreten werde. Für mich war dieses Haus zu keinem Zeitpunkt ein besonders emotional behafteter Ort oder aber meine gefühlsmäßig verortete ‚Heimat‘ gewesen- aber in diesem Ort steckt ein großes Stück meiner noch jungen Lebensgeschichte und ich ging immer fest davon aus, irgendwann einmal mit meinen Kindern dort meine Eltern zu besuchen und ihnen viele Anekdoten und Erinnerungen am Anschauungsobjekt zeigen zu können. Dieser Ort gehört einfach zu mir und ich ging davon aus, dass dem auch weiter so sein würde. Der Schlüssel ist nun quasi das letzte Verbleibende, was mich mit einem Jahrzehnt meines Lebens ganz physisch verbindet und gauckelt mir mental immer noch eine Möglichkeit der Verbindung vor (wobei die Schlösser ja wahrscheinlich schon längst ausgetauscht worden sind). Trotz des Wissens, dass dieser Schlüssel nun ein nutzloses Stück Metall ist und ich wahrscheinlich dieses Haus nie wieder betreten werde, habe ich ihn an meinen neuen Schlüsselbund übertragen. Vielleicht ist es wie mit dem Wegwerfen bzw. Löschen von Briefen, Nachrichten und Fotos nach einer Trennung. Eigentlich ist das Alte schon längst passé- aber erst wenn man es dann noch ganz aufräumen würde, wäre es in all seiner Konsequenz gegangen. So wirkt es noch greifbar und solche Gegenstände lassen das Vergangene nah und immer noch in Resten existent erscheinen und zwingen nicht dazu, seine Geschichte, die man sich immer erzählte, entwarf und als die einzig denkbare empfand, gegen die kühle Unabsehbarkeit einzutauschen.

Doch wie komme ich dazu, nach einer solchen Titelzeile mit einem solchen Schlüssel-Erlebnis zu beginnen? Ich glaube, unsere Annahme von Jesus und unser Gottesbild ist manchmal genau so ein Symbol/Token für uns, dass wir teils trotz besseren Wissens, teils aus Ängstlichkeit vor der Unabsehbarkeit der Ungewohntheit, nicht sein lassen können und wollen. Genau wie das wertlos gewordene Stück Metall oder das Andenken an gute Zeiten mit Menschen, mit denen wir uns ent-liebten.

Jesus, den manche Menschen ja scheinbar so gut und genaustens kennen, dürfte eines der größten Zerrbilder aller Zeiten sein. Er wird als Begründung dafür angeführt, dass jeder nach seiner Fasson selig werden dürfte, oder eben nur nach meiner. (Wobei meine dann natürlich zufällig die einzige ist, die „göttlich richtig“ und deckungsgleich mit der Bibel ist). Die Menschen, die ihren Schwarzwald und Baden-Württemberg so wenig als bunt akzeptieren wollen, dass sie versuchen Mehrheiten gegen Minderheiten(-Gleichwertigkeit) zu sammeln, sehen sich genauso auf Seiten des Jesus, auf den sich die berufen, die gefühlt alles segnen, was man ihnen hinhält: von Waffen bis hin zu Kuschel- und Haustieren.
Da gibt es in einer entspannten Talk-Runde mindestens vier, wenn nicht sogar fünf, Fromme, die sich über Homosexualität austauschen, und von denen sich  jeder in seiner Position irgendwie mit seinem Glauben übereinstimmend sieht. Der Vorsitzende der Evangelischen Allianz hingegen äußert, man könne den Eindruck erhalten, die Sendung sei von „böswilligen Frommenhassern“ inszeniert worden (weil ja nur scheinbar die wirklich fromm sind, die Homosexualität ablehnen. Die Kirchgemeinderätin zählt somit natürlich nicht zu den Frommen…und nur zwei hielten es also ernsthaft mit Jesus, erkennbar am erzkonservativen Wertehintergrund).

Martin Luther King und Mutter Theresa folgte dem gleichen Jesus nach, wie es auch George W. Bush oder der KuKluxKlan tun…

Seit Schweitzer ist es in der Theologie bekannt, dass der Exeget dazu neigt, sich selber in den Text hineinzulesen und damit in seiner Wahrnehmung von Jesus oder seinem Gottesbild viel mehr sich selbst begegnet als dem eigentlich Gesuchten. Es entsteht so ein Jesusbild, welches mir, meinen Wünschen, Ablehnungen, Projektionen entspricht. Mein eigener, persönlicher Jesus. Oder wie es Hannes Leitlein lesenswert ausdrückt: „Was würde welcher Jesus tun?

In der Theologie ging man weiter- und versuchte fortan, in der Aussage- bzw. Verkündigungsabsicht des Autors (Entmythologisierung) oder -als neueste Strömung- in der Rückkopplung des Textes mit dem historischen Kontext spirituellen Nährwert zu gewinnen. Landauf Landein trifft man allerortens häufig jedoch gefühlt auf den haargenau verorteten, genaustens umrissenen und doch immer unterschiedlichen Jesus- und selten trifft man auf eine Scheu, diesen dann auch noch aufgebunden zu bekommen. Und jede Äusserung, die zu irgendwelchen Ungewissheiten führen könnte, wird bekämpft als ginge es um ein gänzliches Abfallen vom Glauben selber, statt um einen schlüssigeren, komplexeren, differenzierterem Standpunkt im Dialog.

Mir zumindest fällt es schon schwierig, die Bibel halbwegs redlich zu verstehen. (Wir benutzen bei der Lektüre klassischer Literatur eine Lektürenhilfe zur Einführung in die historische Situation, Hintergrund des Autors etc. – aber ein antikes Buch aus einer völlig anderen Kultur ist quasi unmittelbar verständlich??). Von der breiten, historischen Wirklichkeit kriegen wir durch einen Flaschenhals (den wir Autor nennen) einen Ausschnitt interpretiert dargestellt- in Sprache und Denkwelt des Autors. Der Autor wählt aus ihm bekannten, unterschiedlichen Quellen und Versionen eine seinen Standpunkt unterstützende Variante aus, interpretiert sie und stellt sie mit anderen ebenso ausgewählten Geschichten zu einem Text für einen Zeit- und Kulturgenossen zusammen, der durch das Lesen zu etwas bewegt werden soll. Es geht Zeit ins Land und mehrere solcher Texte werden nach viel Streit zusammengefasst und für Heilig erklärt. Der heutige Leser liest einen übersetzten (!) Text aus einer fast sprichwörtlichen anderen Welt mit der Brille seiner Weltsicht, seiner Weltanschauung, seiner Vorprägung und projiziert zudem seine Annahmen und Vorstellungen in das Gottesbild hinein. Hinzu kommt noch eine wahrscheinliche Funktionalisierung seines Gottesverständnisses- auf gut deutsch: der Mensch weist Gott eine Funktion zu, die dieser in seiner Wahrnehmung der Welt zu spielen hat: Kümmerer, Fürsorger, „Hat mich lieb“, Garant für Gerechtigkeit, Papa wird es schon richten etc. … . Oder um es in den Worten des philosophischen ThinkTanks ‚Depeche Mode‘ zu sagen:

someone to hear your prayers,
someone who’s there,
somewhone who cares.

Die Pyrotheologie lässt grüßen.

Jede Epoche beleuchtet schon allein kunsthistorisch Jesus anders- wie diese Website sehr gut darstellt. Und wir sollten als erste Epoche kein geprägtes Jesusbild haben? Das Gegenteil finde ich ist der Fall: der smarte Jesus in Pastellfarben20130914-123100.jpg, mit kantigem Gesicht, charmanten Lächeln, gepflegtem Model-Bart (und gefühlt immer ein Lamm auf den Schultern), prägt die Gemeindelandschaft weitläufig- was zumeist auch in Gebeten, Predigten und Liedern Niederschlag findet. Unsere Ich-fokussierte Welt buchstabiert Gott als auf mich fokussiert, mein bester Freund, mein Fürsorger, mein Lieb-haber, mein Hort der Ruhe, jemand der mich alleine so ganz versteht. Der Einzelne ist Adressat Gottes- nicht mehr die Gruppe (bzw. die nur noch als Summe der Einzelnen). Gott und ich 1:1- und dabei stehe ich klar im Lichtkegel Gottes. Glauben wird somit zu etwas wie einer Wellness-Oase für mich. Oder wie es Peter Rollins sagt:

  Take one, or mix and match: Luxury car, financial success, fame or Jesus- they all pretty much promise the same satisfaction

Für andere ist Jesus wieder der Revolutionär, der Widerstandskämpfer für soziale Gerechtigkeit. Oder aber die Inklusion in Reinform. Und fragt man zwei unterschiedliche Anhänger, würde derselbe Jesus ein Post-Industrielles Familienbild als hehrsten christlichen Wert ausgeben- oder aber die aufopferungsvolle Liebe zur Gesellschaft und vor allem den Schwachen; wäre Jesus treuster Verfechter der CDU und Bekämpfer der „das christliche Abendland zersetzenden Grünen“, oder aber er würde mit den Grünen für den nachhaltig-ökologischen Weltfrieden gegen das (alte) Establishment arbeiten.
Als Teilzeit-Theologe kommt man auf jeder Party oder anderer gesellschaftlicher Gelegenheit, wo man auf extrovertierte, überzeugte Fromme trifft, selten über solche „Kämpfe“ hinaus und diese sind mit einigem halb-professionellem Nervfaktor verbunden. Gott darf nicht anders sein als ich annehme und wie ich geprägt wurde- er darf noch nicht mal so sein, wie ihn andere christliche Glaubensrichtungen interpretieren. Wenn jeder nur die Bibel ernst nehmen würde käme man schon beim Punkt von der jeweiligen Person heraus… (Timothy Keller hat bestimmt auch schon ein Buch darüber geschrieben, dass, wenn man alle Erkenntnis-Theorien widerlegt und die Bibel richtig liest, bei seiner Meinung herauskommen muss.) Wie vielen einzig logischen Jesussen ich schon begegnet bin…

Bert Brecht bringt es ziemlich gut auf den Punkt. Auf die Frage nach dem Buch, welches auf ihn den meisten Eindruck gemacht habe, antwortete er angeblich  „Sie werden lachen, die Bibel“ . Gleichzeitig sinniert er so über Gott:

„Einer fragte Herrn K., ob es einen Gott gäbe. Herr K. sagte: „Ich rate dir, nachzudenken, ob dein Verhalten je nach der Antwort auf diese Frage sich ändern würde. Würde es sich nicht ändern, dann können wir die Frage fallen lassen. Würde es sich ändern, dann kann ich dir wenigstens noch so weit behilflich sein, dass ich dir sage, du hast dich schon entschieden: Du brauchst einen Gott.“

Wie schon Schweitzer feststellte, findet sich der Exeget (=Bibelausleger) in Jesus immer selber wieder, projiziert in sein Jesusbild seine eigene Vorstellung hinein und begegnet so dann folgerichtig dem Gott, der so ist, wie er ihn braucht.

Es ist der Leben- Jesu- Forschung merkwürdig ergangen. Sie zog aus, um den historischen Jesus zu finden und meinte, sie könnte ihn dann, wie er ist, als Lehrer und Heiland in unsere Zeit hineinstellen. Sie löste die Bande, mit denen er seit Jahrhunderten an den Felsen der Kirchenlehre gefesselt war, und freute sich, als wieder Leben und Bewegung in die Gestalt kam und sie den historischen Jesus auf sich zukommen sah. Aber er blieb nicht stehen, sondern ging an unserer Zeit vorüber und kehrte in die seinige zurück. Das eben befremdete und erschreckte die Theologie der letzten Jahrzehnte, dass sie ihn mit allem Deuteln und aller Gewalttat in unserer Zeit nicht festhalten konnte, sondern ihn ziehen lassen musste. Er kehrte in die seine zurück mit derselben Notwendigkeit, mit der das befreite Pendel sich in sein ursprüngliche Lage zurückbewegt.”
Albert Schweitzer in ‚Leben-Jesu-Forschung‘

Was, wenn Jesus ganz anders ist, als wir ihn sein lassen? Was, wenn Jesus nicht so ist, wie ich mir das denke oder wie ich das in der Sonntagsschule/Jugendgottesdienst gelernt habe? Gott darf leider vor lauter Gewissheiten zu oft für viele kein Fragezeichen sein und man kommt um diese Diskussionen als kritisch Denkender zu selten herum. „Aber die Bibel sagt doch…“. Viel zu viel würde daran hängen, sich im Bereich seiner Gottesvorstellung zu bewegen oder auch nur sich selbst in der eigenen Wahrnehmung in Frage zu stellen. Da sind gemachte Erfahrungen, tolle Erinnerungen, dies-und-das hat man damals so-und-so gedeutet und müsste das nun Umkrempeln und jahrelange Perspektiven müssten neu überdacht und anders gesehen werden.

Und hier kommt wieder das Schlüssel-Erlebnis ins Spiel: Würde ich meinen Schlüssel vom Ring nehmen, dann würde ich endgültig eingestehen, dass meine Kinder nicht in dem Garten spielen werden, in dem ich spielte und nicht dort schlafen, wo ich schon schlief. Meine Partnerin und Kinder werden nie den Ort sehen, den ich ihnen eigentlich gerne zeigen wollen würde. Das würde gefühlt ultimativ20130425-205111.jpg in Kraft treten, wenn ich den Schlüssel einfach nur noch ein Andenken sein lassen würde und nicht mehr am Schlüsselbund tragen würde. Ich glaube, dass dieser Prozess auch in der hartnäckigen Weigerung, sein Gottes- oder Jesusbild komplexer, differenzierter und vielschichtiger werden zu lassen, drin steckt. Der eigentlich vertraute Jesus darf mir nicht fremd werden, weil das einem gefülten Dammbruch gleich kommen würde. Wir alle wissen insgeheim, dass Jesus über das hinausging, was die wenigen Seiten und unsere (Auslegungs-)Traditionen über ihn sagen- in aller Konsequenz zugeben wollen und können wir es aber häufig nicht. Ich weiß ja eigentlich auch, dass ich nie wieder das Haus meiner Jugend betreten werde…. Ich habe nicht die Traute, meinen Schlüssel vom Ring zu nehmen und in das Ungewisse hinein zu gehen- wieso sollten Menschen dann etwas Fundamentalem wie ihrem Gottesbild einen Schuss Fragezeichen verpassen? Witzigerweise ist Palmsonntag häufig genau dies das Thema: Wie haben sich die Menschen damals in Jesus mit ihren Erwartungen und Projektionen doch getäuscht…

So müsste sich mancher vielleicht die kühle Wahrheit eingestehen, dass man neuerdings nicht auf einmal heterosexuelle Familien mit der Lupe suchen muss (O-Ton des Leiters der Evangelischen Allianz „Was ich [..] vermisse, ist […] die Frage, WIE Menschen für eine Perspektive gewonnen werden können, die im Gegenüber von Mann und Frau ein Geschenk und eine Verantwortung für die Menschheit sieht.“). Dass man mit den gleichen Argumenten schon die Ungleichbehandlung von Frauen, Kindern, Farbigen, Juden und Sklaven rechtfertigte, mit denen mancher nun die Ungleichbehandlung von Homosexuellen weiter in Zement gegossen sehen will. Und dass Jesus vielleicht gar keine so eindeutige Einstellung zu homosexueller Liebe und Leben hatte, da er historisch dieses gar nicht so kennen konnte wie wir. Dass man also fromm sein kann und homosexuelle Beziehungen verdammen- oder aber auch als ebenfalls des Segen Gottes bedürftig ansehen kann. Dass sich Jesus vielleicht nicht im Wertekanon der CDU findet, genauso wie er nicht deckungsgleich ist mit den Grünen-Grundsatzprogrammen. (Kleiner Tipp: die meisten Evangelischen Pfarrer sind klassisch in der SPD. Da wäre auch Jesus. Definitiv.) Dass Jesus vielleicht weder auf Posaunen-Chor noch Worshipband steht, auch keine post-industrielle Kleinfamilie oder aber Frauen als Ernährerinnen einer Hausmann-Familie kannte.

Ein befreites Pendel krampfhaft auf unserer Position zu fixieren ist eigentlich total unsinnig, macht aber wie ein nutzloser Schlüssel persönlich gesehen ziemlich viel Sinn.

Was, wenn Gott finden eigentlich stetiges Suchen bedeutet? Vielleicht besteht Wahrheit näherungsweise ja viel eher darin, im mehrstimmigen Chor der vermeintlichen Wahrheiten Harmonien zu hören und zu glauben, Melodien erkennen zu können. Glauben und Spiritualität hat in meinen Augen viel mehr von Jazz als von Marschmusik: Disharmonien, unklare Strukturen, improvisierte Momentaufnahmen, subjektive Ausdrücke und fast keine klaren Gegebenheiten sind doch viel lebensnaher als feinst notierte, einfache Rhythmen und Melodien, die auch nicht besonders schwer sind allerorts ziemlich ähnlich zu reproduzieren. Im DurchEinander der Fragen(den) nähert man sich der Quelle des Guten, Schönen und Wahren vielleicht eher, als in der Übernahme abgeschlossener denomineller Ansichten. Es kommt dabei allerdings wahrscheinlich nicht mein eigener, persönlicher Jesus heraus, den ich brauche.

In diesem Sinne: Reach out- touch faith

 

Ein Glaube, der Aufruhr heißt

Veröffentlicht: 15. November 2013 in Uncategorized

Von Arne stammt dieser großartige Text, der mich nicht primär kognitiv erreichte- sondern viel eher wie Blues-Musik im Bauch ansprach.

Zwischenraum

Nun fühle ich mich doch dazu genötigt, diesen Text hochzuladen. Nicht, weil er mir besonders gefällt. Im Gegenteil, ich finde ihn kindisch. Ich bemängele seine theologische und theoretische Inkonsistenz, ich finde es fehlen wichtige Dinge und andere sind hoffnungslos einseitig dargestellt. Bei manchen Sätzen würden zwei, drei Sekunden tieferen Nachdenken reichen, um ihre Oberflächlichkeit zu entdecken. Vor allem finde ich ihn prätentiös: er gibt vor, irgendwie tiefsinnig zu sein und ist doch voller Halbheiten, Klischees und geborgten Worten. Dennoch: es geht mir mehr um die Geste als um den Inhalt, es geht um Selbstüberwindung und darum, sich nicht hinter Theorien zu verstecken. Außerdem stellt sich die Frage: mit welchem Recht könnte ich den Text zurückhalten, nun da er doch geschrieben ist? Es ist ein Glaubensbekenntnis, aber dezidiert kein genuin „theologisches“, es geht nicht darum darzustellen, was das historische Christentum ausmacht, sondern eher darum sich dem anzunähern, was ich selbst für…

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Vor ein paar Monaten sitze ich in einem Seminar zum Thema Public Theology und zur Einleitung sammeln wir aktuelle gesellschaftliche Fragen, zu denen noch eine präsente, kirchliche Stellungnahme notwendig wäre. Es entsteht schon dort eine angeregte Diskussion an den klassischen Grenzlinien von konservativ/liberal, weil von den konservativen Vertretern sogleich das Familienbild und vor allem ethische Fragen zur Gentechnik in den Raum gestellt werden, Stichwort Klonen. Wir gehen miteinander in die Diskussion, weil ich meine, schon seit dem Klonschaf-Dolly im Religions-Schulunterricht die kirchlichen Einstellungen zu den meisten Aspekten der Gentechnik zu kennen. Und weil ich der Meinung bin, dass andere Themenfelder aktueller sind, als Fragen, die seit den 90ern auf dem Tisch liegen. In den folgenden Tagen untersuche ich die Nachrichtenseiten bewusst auf den Stellenwert von Klon-Fragen- und auf das was gerade von den Medienmachern als wirklich wichtig betrachtet wird. Es dominiert vor allem die Debatten um Niedriglöhne und ein Flüchtlings-Protestcamp- Gentechnik spielt keine Rolle. Auf das in den letzten Monaten publike Thema ‚Menschenhandel‘- hinter dem sich beide Seiten gut gemeinsam verbünden könnten- kommen wir in unseren Grabenkämpfen nicht.

Wie wirkt es auf Menschen, die wenig Kontaktfläche mit Kirche haben, wenn wir öffentlich Theologie treiben wollen, aber viele relevante Themen aussen vor lassen? Oder es am Wichtigsten erachten, ein Familienbild in den moralischen Grenzen von 1850ff in einer Wagenburg-Mentalität gegen die Gegebenheiten der Zeit als alleinig richtige Lebensform beständig neu zu proklamieren?
Weil mich die Frage bewegt diskutiere ich auf Twitter mit anderen Menschen darüber. Es taucht die Frage auf, ob man auch Flüchtlingen und Niedriglöhnern dies in das Gesicht sagen würde, dass Genethik und die Bewahrung des post-industriellen Familienbilds die drängendsten Fragen aktuell sind, mit der sich Theologie beschäftigen sollte?

Unter dem Gesichtspunkt der öffentlichkeitswirksamen Theologie checke ich in den folgenden Wochen auch die Wahlempfehlungen der Magazine, die sich groß ‚christlich‘ nennen- also in der Regel evangelikal sind. Es scheint, als sollten für Christen die wichtigsten Wahlentscheidungshelfer sein, wie die Parteien die Stellung von Staat und Kirche haben möchten, ob ein Gottesbezug in unserer Verfassung stehen bleiben soll (damit sich ja auch keine Atheisten hinter unser Verfassung versammeln können…) und natürlich überall das Familienbild, bzw. „was für diese übrig bleibt“. (In den Kommentaren unterhalb der Artikel wird übrigens das Nicht-Aufnehmen der AfD und ihres christlichen Bilds in die Vergleichsmatrix am stärksten kritisiert…soviel einmal zur „christlichen Zielgruppe“). Vielleicht kann man es mit dem Anpreiser des Wahlkompass des ‚Neues Leben- das christliche Ratgebermagazin‘ am besten Beschreiben: „Familie. Ethik. Arbeit.“- zugegebener Maßen keine progressiven Schwerpunkte… so sieht dann auch idea spektrum den stärksten Zuspruch für die Union in „geistlichen Hochburgen“ sowie den Erfolg der Konservativen durch Kirchenmitglieder verdankt. Ich weigere mich zu glauben, dass alles, wofür Christentum und Theologie steht in konservativen Ansichten zu Familie und Ethik aufgeht. Und ich weigere mich zu glauben, dass dies die wichtigsten Themen für unser Land und international sind.

Mit dem Thema Menschenhandel hat man es in den letzten Wochen/Monaten bemerkenswerterweise geschafft ein Thema zu finden, dass in der öffentlichen Wahrnehmung stand und sich mit Aktionsbündnissen und  Stellungnahmen Gehör zu verschaffen. Konservative konnten sich mit der negativen Betonung der Zwangsprostitution verbunden fühlen, Liberale mit der Betonung der unertragbaren Ausbeutung von Menschen.

Strukturelle Ungerechtigkeiten öffentlich zu benennen findet sich klassisch eher auf liberaler Seite wieder- und mit dem „Nichts ist gut in Afghanistan“ hat als letztes die evangelische Kirche vor einigen Jahren einen öffentlichen Akzent setzen können. Nun ereignete sich diese Woche wiederholt ein Unglück vor der Insel Lampedusa- welches auch die Frage aufwirft, was unsere Theologie dazu zu sagen hat. Lampedusa ist wiederholt in den Medien gewesen und in Deutschland waren einige Protest-Camps von Flüchtlingen in letzter Zeit öfters Gesprächs-Thema (u.a. das Refugee-Camp in Berlin oder der Hungerstreik der Asylanten in München). Erst unlängst besuchte der neue Papst eindrücklich Lampedusa- ich wüsste von keiner Solidarisierung eines Kirchenoberen in Deutschland mit erwähnten Protesten in unserem Land. Zumindest die beiden Volkskirchen haben Positionen und Argumente zur Flüchtlings-Problematik, sie finden jedoch kaum Bühne oder werden nicht darauf plaziert. Wie sehr beschäftigen sich unsere christlichen Medien mit diesem beständigen Thema? Und welchen Platz hat die Situation von Armutsflüchtlingen und politischen Asylsuchenden auf unseren Kanzeln?

Um es mit Zahlen zu unterstreichen: Schätzungen zufolge sind in den letzten 15 Jahren ca. 200.000 Menschen über den Seeweg entweder vor ihrer Armut oder den politischen Verhältnissen in ihren Heimatländern geflohen. In diesem Jahr sind wohl alleine schon 22.000 Flüchtlinge in Lampedusa angekommen. Laut SpiegelOnline kommen in diesem Jahr mehr denn je: „Aus Somalia, wo kriminelle Banden jeden Tag Terror und Tod verbreiten, aus Eritrea, wo es keine Zukunft gibt, aus Ägypten, Libyen, Tunesien, wo der anfangs gefeierte „Arabische Frühling“ für viele längst zum Alptraum wurde.“

Von diesen Massen, die versuchen Europas Küsten zu erreichen, sind bisher schätzungen zufolge 10.000-20.000 gestorben- also zwischen 5-10% der Flüchtlinge. Oder umgerechnet 21 bis 42 Abstürze voll besetzter Airbus A380. Die „größte Katastrophe der Seefahrt“- der Untergang der Titanic- könnte sich 5-10 mal wiederholen um an die Opferzahlen an Ertrunkenen heranzureichen, die sich Kriminellen anvertrauen mussten, weil wir es in Europa Menschen aus armen Ländern so schwierig machen, an unserem Wohlstand teil zu haben. Es ist eine Schande, wie Papst Franziskus es nannte.

Und warum interessieren uns/die Medien die 32 Tote der Costa Concordia mehr als die monatlich dutzende Toten Armutsflüchtlingen auf dem Mittelmeer? Die vom neuen Papst benannte „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ trifft es meines Erachtens nach sehr gut.

Sucht man nach dem Stichwort ‚Lampedusa‘ bei ‚pro- das christliche Medienmagazin‘ findet man 3 Treffer, die alle nichts mit der Problematik zu tun haben. Idea Spektrum hat einen Kommentar im Angebot, und der ist sogar überraschend offen für die Aufnahme von Flüchtlingen.

Lampedusa ist Realität und somit ist Wegschauen eine Schande- und es macht auch eine Stellungsnahme notwendig. Wenn „wir Christen“ doch angeblich so viel Einfluss auf die Union haben, warum nutzen wir das nicht und machen viel Radau zur einer Änderung ihrer Asylpolitik? (Zur Erinnerung: von den über 2 Millionen Kriegs-Flüchtlingen hat Innenminister Friedrich nach anderthalbjähriger Diskussion“großherzig“ 5.000 aufgenommen in Deutschland und das dann nochmal auf Druck verdoppelt… 0,05% aller syrischen Flüchtlinge können in Deutschland Schutz erwarten…) Um wieder Spiegel Online zu bemühen: „Die Zahl der Asylanträge innerhalb der EU fiel zwischen 1992 und 2007 von 460.000 auf nur noch 220.000. Dies geschah, weil die besonders betroffenen Staaten im Süden zweifelhafte Deals mit Diktatoren wie Gaddafi schlossen, um sich Flüchtlinge vom Leib zu halten.“ Makaber, wenn man sich überlegt, dass mal gestritten wurde, ob in der europäischen Verfassung ein Gottesbezug auftauchen sollte…

Wir müssen uns und unserer Gesellschaft ganz öffentlich Fragen in der Manier von Jesus stellen. Etwa: Sind wir der gleichnishafte reiche Mann, der dem armen Lazarus vor seinen Toren sitzen lässt und das essen lässt, was vom Tisch fällt?

Und warum wir, die wir einem Herrn anhängen, der selber zwei jahre als Asylant lebte,  knapp 90 Millionen pro Jahr alleine für eine eigene Agentur ausgeben, die den Wassergraben rund um unsere Reichenburg sichert (zusätzlich zum Grenzschutz der jeweiligen einzelnen Länder)?

Wie wirken wir, wenn wir dieses Massensterben vor unseren Toren aussen vor lassen in unserer Rede über die Welt, das Reich Gottes, christliche Werte und ein „christliches Menschenbild“? Verhöhnen wir nicht selber unseren Ausdruck, wenn bei Debatten um Elterngeld, Homoehe und Pflegeverischerungsprozentsätzen stets das „christliche Menschenbild“ herangezogen wird- dieses aber vergessen wird, wenn Frauen und Kinder beim Überklettern der Mauern sterben, die wir beständig höher ziehen? Ist es wirklich wichtig, sich vor der Bundestagswahl zu informieren, welche Partei den Gottesbezug im Grundgesetz behalten möchte oder nicht an den Kirchensteuern rütteln möchte, wenn jährlich Menschen in der Anzahl von ca. zwei voll beladenen Flugzeugabstürze durch unser Abschotten sterben? Flüchtlingspolitik konnte ich nicht finden in den Wahlkompässen. Wohl aber „Zuwanderungspolitik“ im Sinne von Integrationspolitik von Muslimen. Und das proklamierte „Recht auf Leben“ spielt also nur bei Fragen der Abtreibung eine Rolle und nicht bei Leben in Armut, politischer Verfolgung etc.?

Laut meiner Kirche gehört es „zum Auftrag, Recht und Pflicht der Gemeinde Jesu Christi (…), bedrohten Menschen beizustehen“ (Thesen der Ev. Kirche im Rheinland vom 13.10.94). Die Barmer Theologische Erklärung drückt die Verantwortlichkeit der Kirche so aus

Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt.

Ich wünsche mir sehr ein „Nichts ist gut auf Lampedusa“ eines hohen Verantwortlichen- und nicht nur einen Dreizeiler des Ratsvorsitzenden zur aktuellen Tragödie und dass sich der „Vorsitzende der Kammer für Migration und Integration der EKD“ bestürzt gibt.. Ich wünsche mir, dass wir medial Aktiven unsere Hüte in den Ring schmeißen und dazu bei tragen, dass dieses Thema nicht mehr nur ein Schattendasein fristet in unseren Gemeinden. Und ich wünsche mir sehr, dass wir es schaffen, das Thema Armutsmigration und politisches Asyl gerade durch unsere Kirchen zu einem Thema zu machen und uns lautstark für neue Regelungen und Zugangsmöglichkeiten einsetzen- (und nicht solche, wie jetzt der (hoffentlich scheidende) Innenminister Friedrich fordert, nämlich die Schlepper härter zu bestrafen. Dies löst nicht das Problem und treibt lediglich die Preise zur Überfahrt hoch.). Gastfreundschaft und das Teilen von Wohlstand war einmal ein hoher christlicher Wert.  Ein Abschotten unseres Wohlstands (den wir wiederum auf den Rücken von Menschen erwirtschaften, denen es schlechter geht als uns) dürfte doch keine Kanzel ernsthaft vertreten, oder?
„Ein feste Burg ist unser Europa“ steht nicht nunmal nicht im Gesangbuch. Oder um Jesus zu bemühen: „… ich bin ein Fremdling gewesen, und ihr habt mich beherbergt.  […] Ich sage euch: Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25, 35 + 45)

Im Normalfall kriegt man alle 2-3 Monate bei Facebook etwas zum Schmunzeln serviert. Irgendjemandem ist es dann wieder wichtig mitzuteilen, dass die Grünen oder andere einflussreiche Bewegungen nun Begriffe wie Papa oder Mama abschaffen wollen oder irgendwas Christliches verboten werden soll. Normalerweise wird ein Hirngespinst eines Grünen-Politikers aus der fünften Reihe ausgewählt um das Drohszenario der Bekämpfung und Sinnentleerung von „christlichen Werten“ oder der „klassischen Familie“ aufzubauen- was dann aber im Verlauf der Tage und Wochen in sich zusammenbricht wie ein Kartenhaus und sich herausstellt als das, was es ist: ein vereinzeltes, lokales Hirngespinst aus der politischen fünften Reihe. Diesmal hat es jedoch (weniger Anlass zur Erheiterung bietend) die Evangelische Kirche mit ihrer kürzlich veröffentlichten -zugegebenermaßen nicht besonders ausbalancierten- Orientierungshilfe getroffen. (Titel: Familie als verbindliche Gemeinschaft stärken…wie unchristlich!)

Aber statt diesmal nur im besonders verschwörungshörigem Milieu zu verbleiben, schwappte es auf den (neo-)konservativen Mainstream über und entwickelte sich im Internet zu einem regelrechten Shitstorm- der sogar solche Stilblüten trieb, dass Menschen, die sich in aller Regelmäßigkeit über den Spiegel beschweren, eine seiner Online-Kolumnen der Öffentlichkeit bei Facebook empfahlen.  Eine kurze, rein subjektive Webschau:

– Der Generalsekretär der evangelischen Allianz (dem evangelikalen Dachverband) erklärt, dass es mit Ethik in der evangelischen Kirche „nicht mehr weit her ist„.

– Peter Hahne spricht von geistlicher Substanzlosigkeit auf unterstem Niveau.

– Idea kramt sofort einen erz-konservativen Bischof hervor, der die Ökumene bedroht sieht. Pro stößt ins gleiche Horn

– Jemand von der Spitze eines süddeutschen Missionswerk postet seinen 4.000 Facebook-Freunden, dass man sich ja nicht wundern brauche über die rückgängigen Geburtenzahlen, wenn alles nun Ehe heißen dürfe. (Nochmal zur Aufklärung: Homosexuelle können keine Kinder mit dem Partner zeugen…es sind die Heterosexuellen, die hier nicht wie gewünscht liefern…)

– Und natürlich taucht dutzende Male der Öffentlichkeit angepriesen die Spiegel-Online-Kolumne von Jan Fleischhauer auf, der der EKD eine Kuscheltheologie bescheinigt, die der bisherige Höhepunkt der Selbstsäkularisierung sei. Die Kuscheltheologie bestehe darin, dass der EKD „alle gleichermaßen lieb sind“ und sie vor lauter Verständnis auf einen „normativen Einfluss verzichte“.

Mich hat dieser Shitstorm sehr genervt. Nicht weil er lauthals eine Position kritisiert, der ich positiver gegenüber stehe, sondern weil er noch inhaltsloser ist als es der Orientierungshilfe vorgeworfen wird. Das einzige Argument kann man in „das war schon immer so“ zusammenfassen und der Rest sind vielfach verbale Schläge in Richtung Magengrube. Angeblich sei die evangelische Kirche nun so weit, dass sie niemand mehr ernst nehmen würde- sie habe es geschafft sich selber zu säkularisieren. (Wer nimmt eigentlich aus der Bevölkerung Idea-Spektrum, die evangelische Allianz oder Pro ernst geschweige denn wahr??). Es gibt Gott sei dank auch durchaus gute, mit Inhalten unterfütterte Kritik. Aber warum findet die nicht den Einzug in die Facebook-Teile-Welt?
Erst zwei Wochen nach Veröffentlichung der EKD-Schrift tauchte endlich einmal ein Artikel in der Flut der Kommentierungen auf, der sich als erster positiv zum Orientierungspapier äussert. Hauptargument der Verfassenden: das Leben ist vielfältiger und in seiner Vielfältigkeit sollen verlässliche Gemeinschaften von der Kirche gestärkt werden, anstatt ein längst kaum noch intaktes Bild einer gewissen Beziehungsform einzig allein zu erhöhen und alle anderen Formen zu diskriminieren. Menschen, die ihren Lebensentwurf abseits der gesellschaftlichen Norm wählen, dürfen auch in die Erfahrung kirchlicher Segnungen und Beistand kommen.

Oder um die Orientierungshilfe selber mal zu Wort kommen zu lassen:

Die den Kindern Gottes zugesagte gleiche Würde jeder und jedes Einzelnen jenseits von Geschlecht und Herkommen und die erfahrbare Gemeinschaft in Christus in all ihrer Unterschiedlichkeit fordert die vorfindlichen Ordnungen immer neu heraus. Deswegen versteht die Reformation die Ehe als »weltlich Ding«; sie ist kein Sakrament, sondern eine Gemeinschaft, die unter dem Segen Gottes steht. Ihre Aufgabe besteht in der Bewahrung und Weitergabe des Lebens in den vielfältigen Formen der Sorge für andere über die Generationen hinweg. Die kirchlichen Segenshandlungen sind ein Zeichen für liebevolle Zuwendung, für Kontinuität und immer neue Aufbrüche im Bund Gottes mit seinem Volk und damit eine Ermutigung, in allen Veränderungen einen gemeinsamen Weg zu wagen. Angesichts von Brüchen und Versagen sind sie zugleich Ausdruck der Rechtfertigung des Menschen allein aus Gnade. Protestantische Theologie unterstützt das Leitbild der an Gerechtigkeit orientierten Familie, die in verlässlicher und verbindlicher Partnerschaft verantwortlich gelebt wird. – S.13

Das ist also die Kuscheltheologie?! Ihr wird vorgeworfen niemandem Wehtun zu wollen und alle in der Gemeinschaft willkommen zu heißen. Oder um es mit dem neuen Social-Media-Helden Jan Fleischhauer zu sagen: „alle sind ihr gleich lieb: Das treusorgende Paar ebenso wie der Ehebrecher oder die Geschiedene, die vier Kinder von fünf Männern hat.“ Das ist etwas, was mich wirklich am EKD-Bashing gestört hat. Weil zwischen den Zeilen ganz krass ein genauestens umrissenes Bewusstsein von drinnen und draußen, richtig und falsch, im Recht und bewusst im Unrecht mitschwingt. Es wird kritisiert, dass Menschen, die nicht sind wie ich, im Raum Kirche gleichberechtigt mit mir werden sollen. Wie könnte auch die angeführte Geschiedene, die bei allen fünf Partnern gutgläubig meinte, den Richtigen erwischt zu haben, gleich zu behandeln sein wie Herr Fleischhauer, dem unverheirateten Peter Hahne oder den Redaktionen von idea und pro? Zumal sie vielleicht in aller Verliebtheit mit jedem ihrer angenommenen „richtigen Partner“ ein Wunschkind zeugen wollte. Da soll bitteschön schon „normativer Anspruch“ bestehen, der den Kindern des Herrn Fleischhauer auf die Schultern klopft und sagt „Euch hat Gott genau so gewollt!“, aber den Kindern der Geschiedenen klar macht, dass sie der Kirche nicht „gleichermaßen lieb sein“. Wie kann ihre Mutter sich auch in ihrer Lebensführung und Gefühlsleben irren?!

Wäre dies dann das Merkmal von etwas, was keine Kuscheltheologie ist: Bei uns darf sich nicht jeder willkommen fühlen? Diesen Vertretern würde ich nochmal eine Lektüre der Evangelien empfehlen. Oder dass sich Menschen erst verändern müssen von dem wie sie sind, um Gottes Zuwendungen in Form von kirchlichen Ritualen zu erfahren? Auch dort würde ich wieder auf ‚jesuanische Praxis‘ verweisen. Oder bedeutet eine Anti-Kuscheltheologie, dass Ehen und Menschen nicht scheitern dürfen? Oder danach zumindest nicht mehr im kirchlichen Leben im selben Maß teilnehmen dürfen?

Dieses Fingerzeigen auf eine Gruppe, die ein nicht-wir ist, ist das, was mir in den Artikeln am Heftigsten sauer aufstieß. Es ist nämlich ziemlich einfach aus einer Gruppierung der Fast-Alles-Richtigmacher heraus auf die da zu zeigen, die etwas zu lachs nehmen, von dem man selber gar nicht betroffen ist. Die da haben dann eine Kuscheltheologie habe ich in den letzten Wochen gelernt. Oder einen „Zettelkasten des Flachsinns voller banaler Beliebigkeiten aus dem Betroffenheits-Stuhlkreis„. Und die da untergraben wegen denen da die Verfassung in „sträflicher Absicht“. Es sind die anderen, die nicht so sind wie ich, die man auf den Splitter im Auge aufmerksam macht.

Es ist zeitgleich aber keine Kuscheltheologie, wenn man theologische Themen umgeht, von denen man sehr wohl betroffen wäre. Wie zum Beispiel die Aufforderung zu einem einfachen Leben oder der laut Jesus Wiedergöttlichkeit von Reichtum. Ups.
Da müsste ja der ausgestreckte Finger ganz schnell zur eigenen Nase wandern. Anstatt in der Suppe der anderen Mücken auszusieben müsste man sich ja fragen ob man selber nicht Kamele verschluckt. Die Gruppe wohlständiger Heterosexueller müsste auf einmal auch das wohlständig im Licht von Gottes Vorstellungen betrachten- und nicht nur die Heterosexualität, bei der man sich auf der eh schon sicheren Seite wähnt. Aber das hat nichts mit Kuscheltheologie zu tun, weil Kuscheltheologie ja will, dass sich alle zuhause fühlen ohne Reibungspunkte. Die da sollen bei uns Reibungspunkte vorfinden und nicht denselben Stellenwert haben wie wir, die wir fast alles richtig machen, weswegen wir uns ja auch zuhause fühlen dürfen.

Jesus erzählt einmal eine Geschichte über einen Fast-Alles-Richtigmacher und einen, der weiß, dass er Gottes Hilfe bedarf. Während der demütige Zöllner Gott um Gnade bittet, dankt der andere dass er nicht wie dieser sei. (Heutzutage danken wir öfters, dass wir nicht sind wie der Pharisäer aus dem Gleichnis…) Ist es nicht gerade gute evangelische Tradition zu wissen, dass wir alle (Betonung: ALLE!) der Gnade bedürfen? Ganz gleich ob gesellschaftliche Mitte oder Minderheit? Dass wir beides sind: der Scheiterer und der Zeigefingerstrecker? Das Scheitern ein Menschenrecht ist? In den überlieferten Worten von Jesus kommt der bewusst Gescheiterte gut weg- nicht der Fast-Alles-Richtigmacher.

Und so finde ich es gut, dass sich in meiner Kirche Menschen nicht dafür entschuldigen oder schämen müssen, wer oder wie sie sind.

Ich finde es gut, dass ein Mensch in seinem Abweichen von der Norm von meiner Kirche trotzdem als Segnungswürdig betrachtet wird.

Ich finde es gut, dass die Realität des Scheiterns gesehen wird und es im Bewusstsein ist, dass wir alles Menschen zweiter Chance sind.

Ich finde es gut, dass meine Kirche in diesem Prozeß des Scheiterns und im Nicht-Mainstream-Dasein bei den Menschen sein will und sich für sie einsetzt.

Das alles sieht beileibe nicht jeder so und muss es auch nicht. Über die Begründung dieser Punkte und die methodische Sauberkeit, die zu ihnen hinführt, kann man sich gerne ausgiebig streiten. Aber ob es in einem Kreis der Fast-Alles-Richtigmacher nicht kuscheliger zugeht als in der Komplexität des Lebens wird man mal anfragen dürfen.

Von Goethe stammt der Ausspruch, dass mit dem Wissen der Zweifel steige. Und da man rhetorisch mit einem Goethe-Zitat schon den argumentativen Sieg so gut wie sicher einfährt -ähnlich wie mit einem Bonhoeffer-Rückgriff unter Protestanten- kann man nun nur noch Klaus von Dohnanyi als Unterfütterung hinzustellen, der Zweifel sogar als Frage der Intelligenz bezeichnet. Oder für einen abrundenden Dreiklang René Descartes erwähnen, der den Zweifel als Anfang der Weisheit ansieht. Das ist nun ein bisschen dick aufgetragen- soll es aber auch für den Artikel-Einstieg sein. Denn umso konservativer das umgebende christliche Milieu, umso mehr habe ich den Eindruck, gleicht die Beschäftigung mit Zweifeln von der Schwierigkeit her einer Art Coming-out. So ist Zweifel im evangelikalen Raum offiziell kaum vorhanden oder wenn dann mal kurz in einer temporären Krisen-Erscheinung aus der man gestärkt hervorgeht. In meiner Sicht gehört der Zweifel jedoch wie der Schatten zum Licht, ist bei intellektueller Redlichkeit in der Beschäftigung mit etwas, das über unsere Möglichkeiten hinausgeht, unvermeidbar.

Zweifel hat viele Facetten und es gibt die unterschiedlichsten Umgangsformen mit ihm. Von Slavoj Žižek gibt es eine grandiose Kurzgeschichte zum Thema Überzeugungen, die von einem Mann handelt, der sich in Psychotherapie begibt, weil er glaubt er sei ein Getreidekorn. Nach mehreren Sitzungen ist er geheilt und der Therapieerfolg scheinbar erreicht: der Mann glaubt nun nicht mehr, dass er ein Getreidekorn sei. Eines Tages steht er ganz aufgeregt vor der Tür des Therapeuten, weil sich sein Nachbar Hühner zugelegt hat. „Aber Sie sind doch kein Getreidekorn“ stellt der Therapeut fest. Darauf der Patient:“Ja, ich weiß das. Aber wissen das auch die Hühner? Könnten Sie auch mit ihnen reden?“

Es gibt Dinge, die haben wir mental verstanden. Wir haben eine Geschichte, die wir uns über uns selber erzählen- das ist ganz normal und auch notwendig, um in dieser Welt klar zu kommen. Und manchmal braucht es Mühe und Aufwand, um diese Geschichte punktuell wieder etwas mehr mit der Realität rückzukoppeln. Der Mann in der Story wird kognitiv verstanden haben, dass er kein Getreidekorn ist, festgestellt haben, dass er Arme und Beine hat (was ein Korn nicht hat) und seinen Lebensalltag danach bestreiten. Konfrontiert mit der scheinbaren Bedrohung der nachbarschaftlichen Hühner wird jedoch deutlich, dass seine Überzeugungen auf mindestens zwei Ebenen ruhen: die kognitive und die existentielle. Letztere dringt in der scheinbaren Gefahrensituation zutage, aber auf die Art und Weise, dass „die anderen“ (in diesem Fall die Hühner) die Dinge vielleicht anders sehen könnten als er. Seine Story, die er sich angewöhnt hat sich selber über sich zu erzählen, steht in Frage dadurch, ob sich die Hühner dieser Story anschliessen oder nicht. Sein Glauben ist sowohl bewusst als auch unbewusster Natur. Nach Žižek leben wir in Strukturen, in denen wir andere Dinge für uns tun und glauben lassen. Sie handeln gewissermaßen „an unserer statt“ sind externalisierte Stellvertreter.

In Kirchengemeinden ist beispielsweise das Diakonie-Café oder die jeweilige diakonische Arbeit eine gute Verdeutlichung: das diakonische Engagement anderer befreit uns von dem Druck, selber diakonisch etwas leisten zu wollen oder zu müssen. „Meine Gemeinde engagiert sich…“- obwohl sich vielleicht der/die jeweilige aussprechende Einzelne nie selber engagiert. Umgekehrt herum ist im aktuellen Fall die Firma KiK gefühlt allein für die schlechten Bedingungen in der zusammengestürtzen Textilfabrik in Bangladesh zuständig- nicht wir. Wir kaufen ja nicht bei KiK. Was sonst noch so da produziert wurde ist uns egal- weil das könnte uns ja wieder angreifbar machen, da wir diese Produkte ja evtl. in unserem Kleiderschrank haben könnten (Zara, esprit, H&M?!)… Wir entwickeln Stellvertreter, die entweder an unserer statt handeln oder aber als aussenliegende Projektion den „Sündenbock“ stellen müssen.
Besonders deutlich wird dies aber am Thema Glauben und Zweifeln. Ich persönlich muss gestehen, dass mein Weg des Glaubens auch in Abschnitten gut davon lebte, andere für mich glauben zu lassen. Mit den Einstiegs-Fragen konfrontiert „Gibt es Gott überhaupt?“ oder „Ist das Christentum die richtige Religion?“ rettete ich mich vor allem in die Erlebnisse und Glaubensansichten von anderen Menschen, die ich für intellektuell oder kompetent hielt. „Wenn XY das Glauben kann, muss das Substanz haben“ oder „Wenn XY immer noch an Gott glaubt, dann muss da was dran sein“. Vielleicht ist das so etwas wie ein Berufs-Fluch von Pfarrern und Pastoren: sie sind „Experten“ des Glaubens, die oft heimlich auch als Stellvertreter herhalten müssen. Oder wie Peter Rollins es in dem gleichnamigen Kapitel seines Buch Insurrection ausdrückt: „I don’t have to believe; my pastor does that for me”- Ich muss nicht glauben, mein Pastor tut dies für mich.

„Konnte Jesus echt Wunder tun? Ist diese Person echt Gott, oder war das vielleicht auch nur irgendein Mensch, den andere Menschen dann für einen Gott hielten? Ist das, was die Bibel uns sagt eigentlich verlässlich?“ Wie oft werden solche und ähnliche verbreitete Fragen durch das Flüchten in Stellvertreter gelöst? Wenn Pastor XY/Pfarrerin XY sich mit dem ganzen Gewicht ihrer Existenz (ergo Beruf) darauf verlässt, muss das schon irgendwie stimmen. Die angenommene christliche Botschaft wird dadurch geglaubt, dass glaubwürdige Menschen als Experten herangezogen werden. Oder um wieder den Bogen zu schlagen: die Hühner sehen mich nicht als Weizenkorn an. „Ich kann das glauben, weil XY das auch glaubt!“.
Und so werden Strukturen wie Kirche oder Gemeinde als große, prinzipiell gesichtslose Institutionen oftmals auch zu „Glaubenden anstatt“- der Glauben der abstrakten Formation Kirche entlässt mich aus der Pflicht alles selber zu glauben. Ich kann glauben, weil die Kirche das alles durch so viele Jahrhunderte und Millionen von Schicksalen hindurch glaubte. Ich muss vielmehr nun nur an die Kirche glauben um mit ihr zu glauben. Das ist wie eine Mitgliedschaft beim FC Bayern: obwohl ich nicht als Spieler zu der gewinnenden Mannschaft auf dem Spielfeld gehöre, ist der errungene Titel auch mein Titel (zu dem ich rein gar nichts beigetragen habe).
Durch Stellvertreter mache ich mich an deren Errungenschaften anteilig. Dass dieses System meistens unbewusst abläuft, erläutert Rollins an dem Trubel, der entsteht, wenn ein Pfarrer oder Pastorin Zweifel oder eine Glaubenskrise beichtet. Damit steht gefühlt viel mehr auf dem Spiel, als dass nur eine Person der Gemeinde eine Krise durchläuft. Gefühlt ist der ganze Turm auf einmal wackelig geworden- obwohl der Glaube dieser Person eigentlich rein gar nichts mit der Stabilität meines eigenen Glaubens zu tun haben sollte. Und die Gemeinde verfällt ebenso durch die zweifelnde Pfarrerin oder den zweifelnden Pastor nicht gleichermaßen direkt mit in Zweifel, aber es ist so, als würde ein psychologischer Damm brechen- was nicht der Fall wäre wenn KirchenbänklerIn XY eine identitsche Glaubenskrise erfahren würde.

Hier besteht ein Anliegen der Pyrotheologie darin, diesem auf den Grund zu gehen und solche psychologische Strukturen aufzudecken und sich ihrer im besten Fall zu entledigen. Also dem Zweifeln, der Unwissenheit und der Fragmenthaftigkeit offen ins Gesicht zu schauen. Oder um es mit Rollins zu sagen: ‚the loss of all the supports that would protect us from a direct confrontation with the world and with ourselves‘ (S.110). Etwas wird nicht wahrer dadurch, dass andere es glauben- das andere etwas glauben, lässt es aber vielleicht wahrer für mich erscheinen und wird so eventuell zum Ersatz meiner eigenen Gedankenmühe und zu einer Damm-Struktur, die mich vor der Komplexität der Existenz schützt.

Und für viele evangelikale Gemeinden wäre das schon ein großer Fortschritt: Zweifel zulassen. Also echten Zweifel zulassen, der über ein schnelles „aber trotzdem“ hinausgeht. Echter, existentieller Glaube muss die Frage aushalten können, warum Gott die Züge in die Konzentrationslager nicht aufhielt. Erst recht, wenn man für jeden Pipifax eine Kausalwirkung von Gebet predigt. („Ich habe meinen Schlüssel dann doch wiedergefunden.“)
Aber auch hier darf man wieder die Hühner-Frage stellen: Man kann seine berechtigten Zweifel an der Wirkung von Gebet (bzw. dem angenommenen Kausalzusammenhang) haben, aber trotzdem lässt man gerne für sich beten (Es könnte ja sein, dass…) oder spricht in einer aufrührenden Situation dann eben doch ein solches Gebet. In einer Pyramide des Zweifelns wäre somit eine zweite Stufe erreicht: Ich muss das nicht glauben/darf zweifeln- aber vielleicht stimmt/wirkt es ja doch. Wenn die Story, die ich mir nun selber erzähle vielleicht nicht stimmt, wäre das ja vielleicht gar nicht so schlecht… oder anders ausgedrückt: das was ich in existentiellen Situationen tue, verrät, was ich eigentlich tatsächlich glaube. Es ist ein wenig wie beim Balancieren mit Netz und doppeltem Boden: die Gefahr existiert dort nur scheinbar, aber eigentlich geht es um die Darstellung der Fähigkeit und des Kunststück.

Nehmen wir wieder das Beispiel der Konzentrationslager: wenn die Beschäftigung mit diesen unfassbaren Gräueltaten meinen Glauben und Gottesbild nicht in eine ernsthafte Krise bringt und somit meine spirituelle Praxis beeinflusst, dann ist es eine ebensolche Stellvertreter-Struktur- ein Zweifel-Dummy. Im erwähnten Buch Insurrection benutzt Rollins dafür die Illustration der Film-Triologie Matrix, in der sich herausstellt, dass die eigentliche Rebellion dafür da ist, eine solche Stellvertreter-Wirkung zu haben. Wenn die Menschen alle paar Zyklen denken dürfen, sie könnten ausbrechen, hält dies das System stabil. (Die wahre Revolution liegt dann am Ende des dritten Films im Waffenstillstand). So wie vielleicht „Freitags einen drauf machen“ die trostlosen 6 anderen Abende ausgleichen soll, könnte ein wenig Zweifel schützend wirken für das restliche Glaubenskonstrukt. Statt zweifelsfrei durch das Leben zu ziehen gönnt man sich einen ‚authentischen Glauben‘ mit ein bisschen, kalkulierbarem Zweifel. Es ist ja auch schon erfahrungsgemäß nicht alles Gold was glänzt…

Einen Schritt weiter geht Katherine Sarah Moody. Beim Nachdenken über diese Themen auf einem solchen Zweifler-Event fiel ihr auf, dass sie aus einem gänzlich anderen Hintergrund kommt: statt den konservativen, evangelikalen Kreisen, denen sich Menschen wie Peter Rollins entwachsen, kommt sie aus einem liberal kirchlichen Hintergrund (Church of England- vergleichbar mit den hiesigen evangelischen Landeskirchen). Solche Themen, wie dem Zweifel Raum schaffen in einer Kultur des scheinbaren Über-Glaubens, sind eher Themen im und für den evangelikalen Bereich, während in den liberalen kirchlichen Hintergründen intellektueller und akademischer Zweifel schon längst Bestandteil ist. In den liberalen Landeskirchen Raum zu schaffen für Zweifel an Gott oder einer „Theologie nach Auschwitz“  ist wie Eulen nach Athen zu tragen… (in einem WELT-Kommentar über ProChrist und  Ulrich Parzany wird dieser einmal als evangelikaler Streiter gegen eine „Kultur des Zweifelns“  in den Kirchen angepriesen). Durch eine harmlose Frage angestoßen fällt Moody auf, dass sie vielleicht ein ebensolches Stellvertreter-System aufgebaut hat. „Ich muss nicht Zweifeln, das tut XY schon für mich“. Ihre Kirche kann für sie zu einer Damm-Struktur des Zweifelns geworden sein. Und so kann sie sich zwar akademischen und intellektuellem Zweifel stellen und mitmischen, doch ihre existentielle Ebene und Praxis berührt das wenig. So gibt es vielleicht nicht nur das Für-sich-glauben-lassen sondern auch das Für-sich-zweifeln-lassen. Das Auslagern von Zweifeln auf andere Zweifler, die diese durchleben, ist vielleicht die nächste Stufe des Zweifelns. Oder aber das Ausweichen von existentiellen Glaubenskrisen durch das Flüchten in intellektuelle Zweifel.

Ich für meinen Teil kenne dies aus meinem Leben sehr gut. Ich kann mich an einer „Theologie nach Ausschwitz“ und einem Moltmann ergötzen und erst recht an einer Dorothee Sölle, die existentielle und intellektuelle Glaubenskrisen durchschritt. Ich kann ihre Ablehnung eines „Papa wird’s schon richten“-Glauben aus vollstem Herzen übernehmen, aber der schlussendlichen, konkreten und existentiellen Schritte ermangel ich auf weiter Strecke. So kann ich in meinem wohleingerichteten Maß an Zweifel beharren- Dorothee zweifelt ja radikal für mich, geht die nächsten Schritte und sorgt dafür, dass der Zweifel ja auch keine halbe Sache ist. Das ist ein wenig wie ein Spiegel- oder Zeit-Abo- auch wenn man es selten schafft eine Ausgabe ganz zu lesen ist man dann ja Spiegel/Zeit-Leser…

Yotin bringt diesen Gedanken weiter, bricht ihn herunter in die Praxis: kann Zweifel in Gemeinschaft erfahren werden? Wie schaffen wir Raum für ein Erfahren von Zweifeln gänzlich frei von Stellvertretern? Unsere liberalen Kirchen zweifeln zwar gerne mit uns und individueller intellektueller Zweifel ist dort anzutreffen und wird nicht ausgegrenzt wie bei so vielen evangelikalen Gemeinden- aber wie können wir ihn gemeinschaftlich gestalten und begehen?
Mit unserer Theologie nach Ausschwitz haben wir vielleicht den Zweifel zwar in unseren Gemeinden ernst- und kognitiv aufgenommen, aber welchen Raum räumen wir ihm ganz konkret ein? Den der seichten Thomas-Messen? Oder um es mit Yotin zu sagen: Innheralb unserer Liturgie benutzen wir unsere Sprache in Form von Worten, Symbolen und Gesten weiter- während wir eigentlich wissen, dass unsere Welt um uns herum anders, nämlich wesentlich komplexer ist. Wir bitten, dass Gott unsere Dunkelheit erleuchte, nehmen aber seine Abwesenheit in unserer Post-Ausschwitz-Theologie an. Unsere Liturgie und Gottesdienste verkommen so zu etwas wie Poesie, Märchen erzählen, wo jeder weiß, dass nichts Schlimmes passiert oder am Ende alles gut wird. Ist das nicht auch so etwas wie eine stellvertretende Flucht? Unsere Orthodoxie mag zwar vielleicht den Zweifel aufgenommen haben, unsere Orthopraxie kennt dafür aber keine Ausdrucksform ausser in Buchform. Für Martin Luther machten drei Dinge den guten Theologen: Meditatio (meditieren),  oratio (Gebet) und tentatio (Anfechtung/Zweifel)- während erstere beiden hervorragend in unsere kirchliche Praxis aufgenommen wurden (naja, vor allem mittleres) fällt tentatio in die individuelle Sphäre. Vielleicht liegt eine Chance für Neuaufbrüche innerhalb der Kirche darin, über Formen kollektiven Zweifelns nachzudenken- jenseits des „aber trotzdem“ und dem ewigen platten Hinweis auf die Psalmen, wo ja auch gehadert werde. Experimente wie Atheism for lent können Anfänge davon sein, sind aber auch eher Versuche, innerhalb des evangelikalen Sektors auf der Pyramide des Zweifelns eine Stufe höher zu klettern. Wie kann man in den Volkskirchen Zweifel aufnehmen? Ich finde die Frage spannend und hoffe darauf, dass in Bewegungen wie der Emergenten oder Alternative Worship Formen dafür gefunden und ausprobiert werden. So oft wird verkündigt, dass der Zweifel zum Glaubensleben dazu gehöre, im Kirchenleben hingegen findet er nahezu keinen Raum. Vielleicht würde kollektiv ausgedrückter Zweifel einigen Stellvertreter-Zweifel befeuern, manch anderen jedoch auch verhindern.
(Aber allgemein angefragt: wiederspricht sich pastorale Fürsorgepflicht der Volkskirche eigentlich nicht mit in Liturgie gegossenen partikulären Zweifeln? Müsste man also so etwas wie eine Untergrppe der Zweifler installieren? (wie man es mit den Thomas-Messen ja schon macht) )

Nun denn, Zweifel ist ein vielfältiges Phänomen. Er kann unterdrückt oder kaum vorhanden sein, es kann ihm ausgewichen werden, er als kognitive Schutzfunktion ausgelagert oder stellvertretend in Anspruch genommen werden. Ein kluger Mann sagte einmal dass der Protestant mit der Frage lebe. Nur- wer erklärt das jetzt den Hühnern?

Via Hannes Leitlein via Peter Aschoff drauf gestoßen. Kiera Phyo bringt es auf einer Tagung der evangelischen Allianz in England gut auf den Punkt.

Hier versucht es Hannes -und hier ich- unseren Senf zum Umgang mit unserer Generation und den Chancen die sie eigentlich hätte, öffentlich zu der Diskussion rund um das Thema Kirche zu geben.

In den 2 Monaten, seit ‚Pyrotheologie- in 300 Wörtern‚ online ging, ist einiges passiert, welches aus meinen Augen einen zweiten, nähernden Blick rechtfertigt. Unter anderem ging die „offizielle Homepage“ online, die eine Eingrenzung und nähere Betrachtung weitaus erleichtert. In folgenden Beiträgen soll in den nächsten Wochen sowohl eine kritische Einordnung als auch Chancen, Stärken und Schwächen behandelt werden- jeweils in unter 300 Wörtern.

Z20130425-205111.jpgur Beschreibung des Begriffs Pyrotheologie greift die neue Homepage die Metapher des Küstenmammutbaums auf, welcher seine bis zu 1000 Lebensjahre auch dadurch erreicht, dass er von Waldbränden und den Mineralien verbrannter Erde profitiert. Ähnlich versuche Pyrotheologie manche ‚Decke des Glaubens‘ in Brand zu stecken, unter welcher wir die Realität verbergen um uns vor ihr zu schützen. Dies erklärt die Absicht von Pyrotheologie treffend: sie fragt nach der Funktion, die manche Glaubensvorstellung und -konzept für uns erfüllt, ist Religionskritik innerhalb der Religion- in die Theologie assimilierte Philosophie (passend dazu ist der Hauptvertreter -Peter Rollins- Doktor der Philosophie).

Ein ‚Gottesbild mit Funktion‘ ist im Einklang mit Tillich eher ein Götze, als der Gott des Juden- und Christentums. Warum schaffen wir uns funktionale Gottesbilder, vergötzen ergo Gott? Rollins zufolge aus unserer Abhängigkeit nach Sicherheit und Zufriedenheit („Certainty and Satisfaction“), welche er aus dem Lacan’schen Spiegelstadium ableitet. Sich dessen bewusst zu werden, kognitive Verdrängungs- und Fluchttechniken offen zu legen und Gottesbilder sowie Glaubenskonzepte auf ihre Funktion für uns abzuklopfen ist das Hauptanliegen von Pyrotheologie.

What if Christianity does not offer a salvation, that operates within this frame, but instead opens up the possibility of a salvation from this frame? – Peter Rollins, The Idolatry of God

20130425-205036.jpgDabei gehe es nicht darum, Menschen in eine fragmenthafte Existenz zu bringen, sondern aufzuzeigen, dass wir eigentlich alle bereits fragmenthaft sind, aber dies versuchen sowohl zu überspielen als auch vor der Konfrontation damit zu fliehen oder uns Glaubensvorstellungen und Gottesprojektionen erschaffen, die wie eine kindliche Kuscheldecke beruhigend wirken und klar machen sollen, dass die Welt nicht so schlimm sei und das Elter sich kümmere.

In pyrotheology, the good news of christianity is not found in the pursuit of certainty and satisfaction, but rather in […] that what helps us embrace our unknowing, our doubts and dis-satisfaction – Peter Rollins

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Teil 1: Das große Bild
Und im Nachgang ein neues ‚Erklärungs-Video‘ der neuen Homepage

Vergangenen Januar schrieb ich einen Blogartikel über das Phänomen, warum viele Menschen in den Zwanzigern in Gemeinden auf einmal einfach fehlen. Ich rollte das Feld über meine eigenen biographischen Erfahrungen auf und kam zu dem Schluss, dass Gemeinde vor allem für spezielle Menschentypen (Milieus) gemacht wird und uns eigentlich gestaltungswilligen Mitzwanzigern wenig Raum zur Gestaltung zugestanden wird. Hannes Leitlein, angehender Kirchengestalter, hat nun einen mutigen Artikel für Christ&Welt geschrieben, in dem er diesem Phänomen von Kirche im Allgmeinen anhand des Kirchentags im Speziellen nachgeht. Den Originalbeitrag gibt es auf Hannes Blog zu lesen, das rebloggen ist mir freundlicherweise gestattet.

In meinem Alter hat man auf dem 34. Evangelischen Kirchentag nichts zu suchen. Wir „jungen Erwachsenen“ waren auch in Hamburg nicht vorgesehen, so wie schon vorher in Dresden, Bremen und Köln, und auf dem Ökumenischen Kirchentag 2010 in München übrigens auch nicht. Menschen zwischen 20 und 35 fanden im 600 Seiten starken Programm des Glaubensfestes kaum Angebote, die auf ihr Alter zugeschnitten waren. Verantwortung und Gestaltungsspielraum wird in Großinstitutionen nur selten an Menschen unter 40 abgegeben. Wir kommen nicht vor. In der Kirche nicht und auch nicht auf dem Kirchentag.

Die meisten von uns verabschieden sich aus der Kirche schon während ihrer Jugendjahre. Einige engagieren sich als Gruppenleiter, aber spätestens mit 19 ist Ende Geländespiel. Den Ton geben die 50-Jährigen an, die sich als „junge Erwachsene“ empfinden. Auf dem Kirchentag sind viele aus dieser Altersgruppe im „Zentrum Jugend“ damit beschäftigt, die Jüngeren zu bespaßen. Sie organisieren Gottesdienste, schmeißen Partys, verwalten die Unterkünfte, geben Konzerte. Das Ganze gleicht einem riesigen Småland, aus dem aber nicht die Kinder im Bällebad abgeholt werden wollen, sondern die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Denn irgendwann sind sie dann doch fürs Zentrum Jugend zu alt. Sie verschwinden und hinterlassen eine Lücke, auf dem Kirchentag und in den Gemeinden. Die Themenvielfalt kann nur mühsam verbergen, dass es keine Altersvielfalt gibt.

Irgendwann tauchen die Konfirmandinnen und Konfirmanden von damals wieder in der Gemeinde auf. Wenn sie heiraten, ihre Kinder getauft oder die Eltern beerdigt werden sollen, sprechen sie im Pfarrhaus vor. Der lädt sie in die Gemeinde ein, zum Gottesdienst. Aber wohin mit dem Kinderwagen? Ein Gangplatz ist nötig, denn wenn der Nachwuchs schreit, sind kurze Fluchtwege gefragt. Wickeltisch? Die Kirche hat ja nicht einmal eine Toilette. Angebote in der Woche? Leider Fehlanzeige. Schon gar, solange noch kein Nachwuchs da ist. Dann greift kein Mutter-Kind-Kreis und kein Elternzeit-Treff. Erst wenn sie es ins bürgerliche Establishment geschafft haben, kann die Gemeinde wieder mit ihnen rechnen. Und der Kirchentag. „Statt Ostermärschen kultiviert man heute Kirchenbesuche“, schreibt die Soziologin Cornelia Koppetsch über die neue Bourgeoisie. Auch der Kirchentag ist eine Ersatzdemo. Hier zeigt die Generation 40 plus, was gut ist. Sind die Neubürgerlichen erst mal so weit, weiß ihnen die Kirchentags- App wieder weiterzuhelfen. Vorausgesetzt sie können ein Smartphone bedienen. Damit finden sie im Nu Tausende Veranstaltungen, Vorträge, Podien und Bibelarbeiten. Alles zugeschnitten auf ihre Interessen. Sie finden Veranstaltungen zu allen Themen ihres Lebens. Egal, was sie gerade beschäftigt: Es ist für jeden und jede etwas dabei.

Der Protestantismus sieht wegen der vielen Helfer auf Kirchentagen jünger aus, als er im Alltag ist. Pfadfinder, die traditionell die Ordner auf Kirchentagen stellen, sind im Alltag der Gemeinde eher selten. Wer in einer Straßenumfrage das Gesicht des Protestantismus identifizieren will, bekommt garantiert von der Mehrheit einen Namen genannt: Margot Käßmann. Das ist das Ergebnis des evangelischen Margot-Merchandisings. Ausdauernd wird die Theologin und Reformationsjubiläumsbotschafterin auf ihrem Posten gehalten. Sie ist und bleibt die Hoffnung der jungen Kirche. Weltliche wie kirchliche Buchläden haben gleich mehrere Neuerscheinungen in verschiedenen Verlagen von ihr im Schaufenster und neben der Kasse. Damit läuft sie in der Anzahl ihrer Veröffentlichungen sogar Anselm Grün, dem katholischen Lieblingsautor der Protestanten, den Rang ab. Wenn Margot kommt, wird das Schild „Halle überfüllt“ oft schon eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn angebracht. Sie ist die protestantische Ikone, an der sich die protestantische Ü-40-Party orientiert. Aber es muss doch möglich sein, jemand Jüngeres als Margot Käßmann und Eckart von Hirschhausen aufzutreiben, der außerdem katholisch ist! Wo sind die Marina Weisbands des Protestantismus? Die Gemeinden altern schneller als der Bevölkerungsdurchschnitt. Die Führungsebenen der Kirchen ebenfalls. Ein einziges Mitglied des 15-köpfigen Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, die Mathematikerin Elke Eisenschmidt aus Magdeburg, ist jünger als 45. Die meisten Bischöfe in der Führung der Kirche sind bald Rentner. Der Ratsvorsitzende ist es jetzt schon. Aber keiner von ihnen gibt seinen Sitz im Leitungsgremium auf.

Obwohl Margot Käßmann fast so alt ist wie der Kirchentag selbst, gehört sie mit 54 Jahren noch zu den Jüngeren in der Verantwortungselite. Die Gremien, die den Kirchentag vorbereiten und verantworten, sind eher in der Nähe des „Zentrums Älterwerden“ angesiedelt als im „Zentrum Jugend“. Selbst im Vorbereitungsteam des Letzteren sitzen nur wenige, die sich nicht mehr an die erste Mondlandung erinnern können. Viele von ihnen haben ihre persönliche Geschichte mit dem Kirchentag zu erzählen. Nur 19 Prozent der Kirchentagsgäste in Hamburg waren über 60 Jahre alt. Die 35 Mitglieder im Präsidium des Protestantentreffens, 22 davon mit einem oder mehreren Doktortiteln, spiegeln die Alterszusammensetzung der Besucher kaum wider. Immerhin sind zwei Mitglieder des Jugendausschusses ständige Gäste im Präsidium. Dieser soll seit 2005 den Kirchentag jünger machen. Gedacht wird dabei aber wieder vor allem an die Jugendlichen. Auch hier sind die Mittzwanziger mit den Fragen von pubertierenden Teenagern beschäftigt.

Wer nicht zumindest erste graue Haare oder einen Titel vorweisen kann, hat in der Verantwortungsebene der evangelischen Kirche noch immer nichts zu sagen. Und das, obwohl ein Drittel der Teilnehmerinnen und Teilnehmer unter 30 Jahre alt ist. Diese jungen Leute machen etwas her, wenn die Fernsehteams Bilder eines fröhlichen Glaubensfestes suchen. Was die Katholiken als Weltjugendtag feiern, können wir schon längst, soll das heißen. Ganz ohne Papst. Jelena Auracher ist eines dieser jungen evangelischen Gesichter.

Die 23-jährige Studentin aus Essen hatte die Ehre, im Abschlussgottesdienst des Kirchentages vor mehr als 100 000 Menschen Gebete und Texte abzulesen. Bei der inhaltlichen Vorbereitung des Gottesdienstes wurde jedoch nicht sie, sondern wieder ältere Semester einbezogen. Dementsprechend war der Gottesdienst vor allem für Menschen interessant, die ihn von zu Hause mit ihrem noch gut erhaltenen Transistorradio verfolgten.

Menschen ohne graue Haare und Doktortitel finden selbst mit der Suchmaske der Kirchentags-App – nichts. Na ja, fast nichts. Immerhin gab es das „Wohnzimmer“ – „ein Ort, an dem Jugendliche und [sic!] junge Erwachsene nach langen Kirchentagstouren pausieren können“. Ein anderer graufreier Raum soll die tägliche Twitter-Bibelarbeit gewesen sein, bei der es möglich war, sich über den Kurznachrichtendienst live zu beteiligen. Die Möglichkeiten für junge Erwachsene erstreckten sich von Chillen bis Liken.

Ganz leer gingen die Twenty some – things also nicht aus. Es gab ja auch noch großartige Konzerte. Die Band Sea & Air zum Beispiel, die nach eigenen Angaben den Sommerhit für das Jahr 2017 liefert. Und selbstverständlich ist auch eine Bibelarbeit mit Fulbert Steffensky nicht erst im hohen Alter erquickend. Im Gegenteil! Es gibt Dinge, die auf einem Kirchentag nicht fehlen dürfen. Die Weisheit und Lebenserfahrung des alten Lehrers würde sich gut mit den frechen, mutigen und manchmal auch naiven Fragen von jungen Erwachsenen verstehen.

Und was wäre der Kirchentag ohne Fritz Baltruweit? Oder ohne die Wise Guys, die inzwischen in Sachen Kirchentagserfahrung auf jeden Fall in dessen Liga spielen. Wer sollte die Stadt mit „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes“ beglücken, wenn nicht die Posaunenchöre? Die Pfadfinderinnen und Pfadfinder und ihr Engagement sind unverzichtbar.

Nicht, dass die Älteren uns Jüngeren nichts zu sagen hätten. Austausch, Dialog und Auseinandersetzung kommen aber nur zustande, wenn die Älteren den Jüngeren Plätze überlassen. Gremien und Podien müssen verjüngt werden. Der Kirchentag könnte Jung und Alt ins Gespräch bringen. Jung kann von Alt viel lernen. Alt kann Jung viel mehr zutrauen. Die Laienquote schreibt jetzt schon vor, dass mindestens 50 Prozent eines Gremiums nicht hauptamtlich in der Kirche tätig sein sollen. Dazu könnte eine weitere Quote festlegen, dass mindestens 50 Prozent der Mitwirkenden unter 35 Jahren sein sollten. Das würde Alt vielleicht die Entscheidung erleichtern, ein Amt nach einer gewissen Zeit an Jung abzugeben. In einem „Zentrum junge Erwachsene“ könnte gezielt Fragen und Themen nachgegangen werden, die in diesem Lebensabschnitt relevant sind. Wir hätten die Möglichkeit, Inhalte zu setzen. Eigene Formen könnten gefunden werden. Der Kirchentag könnte einen Raum eröffnen, in dem junge Erwachsene ihre Ideen von einer protestantischen Spiritualität entdecken und entwickeln.

Ein Austausch auf diesem Feld ist überüberf.llig. So mancher Vorbehalt, den unsere Generation kaum nachvollziehen kann, müsste dann nicht erst überwunden werden. Gottesdienste könnten gefeiert und entworfen werden, die zu unserer Kultur und unserem Leben passen. Die Bibel muss neu übersetzt werden in unsere und aus unserer Lebenswirklichkeit.

Die Kirche für alle verzichtet auf sehr viel und sehr viele. Eine wichtige Gruppe von Menschen kommt in der Kirche nicht vor. Unsere Energie, unser Wille zur Veränderung wird ignoriert oder kommt nicht zum Zuge. Braucht ihr uns wirklich nicht?