Banksy’s Jesus
Von Schlüsselerlebnissen, Flaschenhälsen und befreiten Pendeln
Vor wenigen Wochen kaufte ich mir einen neuen Schlüssel-Ring und beim Übertragen der alten Schlüssel auf den neuen Bund fiel mir wieder auf, dass ich noch immer meinen Haustürschlüssel für das Haus meiner Jugendjahre bei mir trage- obwohl das Haus schon seit mehreren Jahren verkauft ist und ich es wahrscheinlich nie mehr betreten werde. Für mich war dieses Haus zu keinem Zeitpunkt ein besonders emotional behafteter Ort oder aber meine gefühlsmäßig verortete ‚Heimat‘ gewesen- aber in diesem Ort steckt ein großes Stück meiner noch jungen Lebensgeschichte und ich ging immer fest davon aus, irgendwann einmal mit meinen Kindern dort meine Eltern zu besuchen und ihnen viele Anekdoten und Erinnerungen am Anschauungsobjekt zeigen zu können. Dieser Ort gehört einfach zu mir und ich ging davon aus, dass dem auch weiter so sein würde. Der Schlüssel ist nun quasi das letzte Verbleibende, was mich mit einem Jahrzehnt meines Lebens ganz physisch verbindet und gauckelt mir mental immer noch eine Möglichkeit der Verbindung vor (wobei die Schlösser ja wahrscheinlich schon längst ausgetauscht worden sind). Trotz des Wissens, dass dieser Schlüssel nun ein nutzloses Stück Metall ist und ich wahrscheinlich dieses Haus nie wieder betreten werde, habe ich ihn an meinen neuen Schlüsselbund übertragen. Vielleicht ist es wie mit dem Wegwerfen bzw. Löschen von Briefen, Nachrichten und Fotos nach einer Trennung. Eigentlich ist das Alte schon längst passé- aber erst wenn man es dann noch ganz aufräumen würde, wäre es in all seiner Konsequenz gegangen. So wirkt es noch greifbar und solche Gegenstände lassen das Vergangene nah und immer noch in Resten existent erscheinen und zwingen nicht dazu, seine Geschichte, die man sich immer erzählte, entwarf und als die einzig denkbare empfand, gegen die kühle Unabsehbarkeit einzutauschen.
Doch wie komme ich dazu, nach einer solchen Titelzeile mit einem solchen Schlüssel-Erlebnis zu beginnen? Ich glaube, unsere Annahme von Jesus und unser Gottesbild ist manchmal genau so ein Symbol/Token für uns, dass wir teils trotz besseren Wissens, teils aus Ängstlichkeit vor der Unabsehbarkeit der Ungewohntheit, nicht sein lassen können und wollen. Genau wie das wertlos gewordene Stück Metall oder das Andenken an gute Zeiten mit Menschen, mit denen wir uns ent-liebten.
Jesus, den manche Menschen ja scheinbar so gut und genaustens kennen, dürfte eines der größten Zerrbilder aller Zeiten sein. Er wird als Begründung dafür angeführt, dass jeder nach seiner Fasson selig werden dürfte, oder eben nur nach meiner. (Wobei meine dann natürlich zufällig die einzige ist, die „göttlich richtig“ und deckungsgleich mit der Bibel ist). Die Menschen, die ihren Schwarzwald und Baden-Württemberg so wenig als bunt akzeptieren wollen, dass sie versuchen Mehrheiten gegen Minderheiten(-Gleichwertigkeit) zu sammeln, sehen sich genauso auf Seiten des Jesus, auf den sich die berufen, die gefühlt alles segnen, was man ihnen hinhält: von Waffen bis hin zu Kuschel- und Haustieren.
Da gibt es in einer entspannten Talk-Runde mindestens vier, wenn nicht sogar fünf, Fromme, die sich über Homosexualität austauschen, und von denen sich jeder in seiner Position irgendwie mit seinem Glauben übereinstimmend sieht. Der Vorsitzende der Evangelischen Allianz hingegen äußert, man könne den Eindruck erhalten, die Sendung sei von „böswilligen Frommenhassern“ inszeniert worden (weil ja nur scheinbar die wirklich fromm sind, die Homosexualität ablehnen. Die Kirchgemeinderätin zählt somit natürlich nicht zu den Frommen…und nur zwei hielten es also ernsthaft mit Jesus, erkennbar am erzkonservativen Wertehintergrund).
Martin Luther King und Mutter Theresa folgte dem gleichen Jesus nach, wie es auch George W. Bush oder der KuKluxKlan tun…
Seit Schweitzer ist es in der Theologie bekannt, dass der Exeget dazu neigt, sich selber in den Text hineinzulesen und damit in seiner Wahrnehmung von Jesus oder seinem Gottesbild viel mehr sich selbst begegnet als dem eigentlich Gesuchten. Es entsteht so ein Jesusbild, welches mir, meinen Wünschen, Ablehnungen, Projektionen entspricht. Mein eigener, persönlicher Jesus. Oder wie es Hannes Leitlein lesenswert ausdrückt: „Was würde welcher Jesus tun?“
In der Theologie ging man weiter- und versuchte fortan, in der Aussage- bzw. Verkündigungsabsicht des Autors (Entmythologisierung) oder -als neueste Strömung- in der Rückkopplung des Textes mit dem historischen Kontext spirituellen Nährwert zu gewinnen. Landauf Landein trifft man allerortens häufig jedoch gefühlt auf den haargenau verorteten, genaustens umrissenen und doch immer unterschiedlichen Jesus- und selten trifft man auf eine Scheu, diesen dann auch noch aufgebunden zu bekommen. Und jede Äusserung, die zu irgendwelchen Ungewissheiten führen könnte, wird bekämpft als ginge es um ein gänzliches Abfallen vom Glauben selber, statt um einen schlüssigeren, komplexeren, differenzierterem Standpunkt im Dialog.
Mir zumindest fällt es schon schwierig, die Bibel halbwegs redlich zu verstehen. (Wir benutzen bei der Lektüre klassischer Literatur eine Lektürenhilfe zur Einführung in die historische Situation, Hintergrund des Autors etc. – aber ein antikes Buch aus einer völlig anderen Kultur ist quasi unmittelbar verständlich??). Von der breiten, historischen Wirklichkeit kriegen wir durch einen Flaschenhals (den wir Autor nennen) einen Ausschnitt interpretiert dargestellt- in Sprache und Denkwelt des Autors. Der Autor wählt aus ihm bekannten, unterschiedlichen Quellen und Versionen eine seinen Standpunkt unterstützende Variante aus, interpretiert sie und stellt sie mit anderen ebenso ausgewählten Geschichten zu einem Text für einen Zeit- und Kulturgenossen zusammen, der durch das Lesen zu etwas bewegt werden soll. Es geht Zeit ins Land und mehrere solcher Texte werden nach viel Streit zusammengefasst und für Heilig erklärt. Der heutige Leser liest einen übersetzten (!) Text aus einer fast sprichwörtlichen anderen Welt mit der Brille seiner Weltsicht, seiner Weltanschauung, seiner Vorprägung und projiziert zudem seine Annahmen und Vorstellungen in das Gottesbild hinein. Hinzu kommt noch eine wahrscheinliche Funktionalisierung seines Gottesverständnisses- auf gut deutsch: der Mensch weist Gott eine Funktion zu, die dieser in seiner Wahrnehmung der Welt zu spielen hat: Kümmerer, Fürsorger, „Hat mich lieb“, Garant für Gerechtigkeit, Papa wird es schon richten etc. … . Oder um es in den Worten des philosophischen ThinkTanks ‚Depeche Mode‘ zu sagen:
someone to hear your prayers,
someone who’s there,
somewhone who cares.
Die Pyrotheologie lässt grüßen.
Jede Epoche beleuchtet schon allein kunsthistorisch Jesus anders- wie diese Website sehr gut darstellt. Und wir sollten als erste Epoche kein geprägtes Jesusbild haben? Das Gegenteil finde ich ist der Fall: der smarte Jesus in Pastellfarben, mit kantigem Gesicht, charmanten Lächeln, gepflegtem Model-Bart (und gefühlt immer ein Lamm auf den Schultern), prägt die Gemeindelandschaft weitläufig- was zumeist auch in Gebeten, Predigten und Liedern Niederschlag findet. Unsere Ich-fokussierte Welt buchstabiert Gott als auf mich fokussiert, mein bester Freund, mein Fürsorger, mein Lieb-haber, mein Hort der Ruhe, jemand der mich alleine so ganz versteht. Der Einzelne ist Adressat Gottes- nicht mehr die Gruppe (bzw. die nur noch als Summe der Einzelnen). Gott und ich 1:1- und dabei stehe ich klar im Lichtkegel Gottes. Glauben wird somit zu etwas wie einer Wellness-Oase für mich. Oder wie es Peter Rollins sagt:
Take one, or mix and match: Luxury car, financial success, fame or Jesus- they all pretty much promise the same satisfaction
Für andere ist Jesus wieder der Revolutionär, der Widerstandskämpfer für soziale Gerechtigkeit. Oder aber die Inklusion in Reinform. Und fragt man zwei unterschiedliche Anhänger, würde derselbe Jesus ein Post-Industrielles Familienbild als hehrsten christlichen Wert ausgeben- oder aber die aufopferungsvolle Liebe zur Gesellschaft und vor allem den Schwachen; wäre Jesus treuster Verfechter der CDU und Bekämpfer der „das christliche Abendland zersetzenden Grünen“, oder aber er würde mit den Grünen für den nachhaltig-ökologischen Weltfrieden gegen das (alte) Establishment arbeiten.
Als Teilzeit-Theologe kommt man auf jeder Party oder anderer gesellschaftlicher Gelegenheit, wo man auf extrovertierte, überzeugte Fromme trifft, selten über solche „Kämpfe“ hinaus und diese sind mit einigem halb-professionellem Nervfaktor verbunden. Gott darf nicht anders sein als ich annehme und wie ich geprägt wurde- er darf noch nicht mal so sein, wie ihn andere christliche Glaubensrichtungen interpretieren. Wenn jeder nur die Bibel ernst nehmen würde käme man schon beim Punkt von der jeweiligen Person heraus… (Timothy Keller hat bestimmt auch schon ein Buch darüber geschrieben, dass, wenn man alle Erkenntnis-Theorien widerlegt und die Bibel richtig liest, bei seiner Meinung herauskommen muss.) Wie vielen einzig logischen Jesussen ich schon begegnet bin…
Bert Brecht bringt es ziemlich gut auf den Punkt. Auf die Frage nach dem Buch, welches auf ihn den meisten Eindruck gemacht habe, antwortete er angeblich „Sie werden lachen, die Bibel“ . Gleichzeitig sinniert er so über Gott:
„Einer fragte Herrn K., ob es einen Gott gäbe. Herr K. sagte: „Ich rate dir, nachzudenken, ob dein Verhalten je nach der Antwort auf diese Frage sich ändern würde. Würde es sich nicht ändern, dann können wir die Frage fallen lassen. Würde es sich ändern, dann kann ich dir wenigstens noch so weit behilflich sein, dass ich dir sage, du hast dich schon entschieden: Du brauchst einen Gott.“
Wie schon Schweitzer feststellte, findet sich der Exeget (=Bibelausleger) in Jesus immer selber wieder, projiziert in sein Jesusbild seine eigene Vorstellung hinein und begegnet so dann folgerichtig dem Gott, der so ist, wie er ihn braucht.
Es ist der Leben- Jesu- Forschung merkwürdig ergangen. Sie zog aus, um den historischen Jesus zu finden und meinte, sie könnte ihn dann, wie er ist, als Lehrer und Heiland in unsere Zeit hineinstellen. Sie löste die Bande, mit denen er seit Jahrhunderten an den Felsen der Kirchenlehre gefesselt war, und freute sich, als wieder Leben und Bewegung in die Gestalt kam und sie den historischen Jesus auf sich zukommen sah. Aber er blieb nicht stehen, sondern ging an unserer Zeit vorüber und kehrte in die seinige zurück. Das eben befremdete und erschreckte die Theologie der letzten Jahrzehnte, dass sie ihn mit allem Deuteln und aller Gewalttat in unserer Zeit nicht festhalten konnte, sondern ihn ziehen lassen musste. Er kehrte in die seine zurück mit derselben Notwendigkeit, mit der das befreite Pendel sich in sein ursprüngliche Lage zurückbewegt.”
– Albert Schweitzer in ‚Leben-Jesu-Forschung‘
Was, wenn Jesus ganz anders ist, als wir ihn sein lassen? Was, wenn Jesus nicht so ist, wie ich mir das denke oder wie ich das in der Sonntagsschule/Jugendgottesdienst gelernt habe? Gott darf leider vor lauter Gewissheiten zu oft für viele kein Fragezeichen sein und man kommt um diese Diskussionen als kritisch Denkender zu selten herum. „Aber die Bibel sagt doch…“. Viel zu viel würde daran hängen, sich im Bereich seiner Gottesvorstellung zu bewegen oder auch nur sich selbst in der eigenen Wahrnehmung in Frage zu stellen. Da sind gemachte Erfahrungen, tolle Erinnerungen, dies-und-das hat man damals so-und-so gedeutet und müsste das nun Umkrempeln und jahrelange Perspektiven müssten neu überdacht und anders gesehen werden.
Und hier kommt wieder das Schlüssel-Erlebnis ins Spiel: Würde ich meinen Schlüssel vom Ring nehmen, dann würde ich endgültig eingestehen, dass meine Kinder nicht in dem Garten spielen werden, in dem ich spielte und nicht dort schlafen, wo ich schon schlief. Meine Partnerin und Kinder werden nie den Ort sehen, den ich ihnen eigentlich gerne zeigen wollen würde. Das würde gefühlt ultimativ in Kraft treten, wenn ich den Schlüssel einfach nur noch ein Andenken sein lassen würde und nicht mehr am Schlüsselbund tragen würde. Ich glaube, dass dieser Prozess auch in der hartnäckigen Weigerung, sein Gottes- oder Jesusbild komplexer, differenzierter und vielschichtiger werden zu lassen, drin steckt. Der eigentlich vertraute Jesus darf mir nicht fremd werden, weil das einem gefülten Dammbruch gleich kommen würde. Wir alle wissen insgeheim, dass Jesus über das hinausging, was die wenigen Seiten und unsere (Auslegungs-)Traditionen über ihn sagen- in aller Konsequenz zugeben wollen und können wir es aber häufig nicht. Ich weiß ja eigentlich auch, dass ich nie wieder das Haus meiner Jugend betreten werde…. Ich habe nicht die Traute, meinen Schlüssel vom Ring zu nehmen und in das Ungewisse hinein zu gehen- wieso sollten Menschen dann etwas Fundamentalem wie ihrem Gottesbild einen Schuss Fragezeichen verpassen? Witzigerweise ist Palmsonntag häufig genau dies das Thema: Wie haben sich die Menschen damals in Jesus mit ihren Erwartungen und Projektionen doch getäuscht…
So müsste sich mancher vielleicht die kühle Wahrheit eingestehen, dass man neuerdings nicht auf einmal heterosexuelle Familien mit der Lupe suchen muss (O-Ton des Leiters der Evangelischen Allianz „Was ich [..] vermisse, ist […] die Frage, WIE Menschen für eine Perspektive gewonnen werden können, die im Gegenüber von Mann und Frau ein Geschenk und eine Verantwortung für die Menschheit sieht.“). Dass man mit den gleichen Argumenten schon die Ungleichbehandlung von Frauen, Kindern, Farbigen, Juden und Sklaven rechtfertigte, mit denen mancher nun die Ungleichbehandlung von Homosexuellen weiter in Zement gegossen sehen will. Und dass Jesus vielleicht gar keine so eindeutige Einstellung zu homosexueller Liebe und Leben hatte, da er historisch dieses gar nicht so kennen konnte wie wir. Dass man also fromm sein kann und homosexuelle Beziehungen verdammen- oder aber auch als ebenfalls des Segen Gottes bedürftig ansehen kann. Dass sich Jesus vielleicht nicht im Wertekanon der CDU findet, genauso wie er nicht deckungsgleich ist mit den Grünen-Grundsatzprogrammen. (Kleiner Tipp: die meisten Evangelischen Pfarrer sind klassisch in der SPD. Da wäre auch Jesus. Definitiv.) Dass Jesus vielleicht weder auf Posaunen-Chor noch Worshipband steht, auch keine post-industrielle Kleinfamilie oder aber Frauen als Ernährerinnen einer Hausmann-Familie kannte.
Ein befreites Pendel krampfhaft auf unserer Position zu fixieren ist eigentlich total unsinnig, macht aber wie ein nutzloser Schlüssel persönlich gesehen ziemlich viel Sinn.
Was, wenn Gott finden eigentlich stetiges Suchen bedeutet? Vielleicht besteht Wahrheit näherungsweise ja viel eher darin, im mehrstimmigen Chor der vermeintlichen Wahrheiten Harmonien zu hören und zu glauben, Melodien erkennen zu können. Glauben und Spiritualität hat in meinen Augen viel mehr von Jazz als von Marschmusik: Disharmonien, unklare Strukturen, improvisierte Momentaufnahmen, subjektive Ausdrücke und fast keine klaren Gegebenheiten sind doch viel lebensnaher als feinst notierte, einfache Rhythmen und Melodien, die auch nicht besonders schwer sind allerorts ziemlich ähnlich zu reproduzieren. Im DurchEinander der Fragen(den) nähert man sich der Quelle des Guten, Schönen und Wahren vielleicht eher, als in der Übernahme abgeschlossener denomineller Ansichten. Es kommt dabei allerdings wahrscheinlich nicht mein eigener, persönlicher Jesus heraus, den ich brauche.
In diesem Sinne: Reach out- touch faith